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Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)

Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)

Titel: Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nassim Nicholas Taleb
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sehr komplizierten Exoten zurechtkommen können, wenn sie noch nie etwas vom Girsanov-Theorem gehört haben«. Das Girsanov-Theorem ist ein mathematisch hochkomplexes Gebilde, das damals nur sehr wenige kannten. Wir aber sprachen von Parkett-Tradern, die – wie wir im letzten Kapitel gesehen haben – Girsanov wohl eher für eine Wodkasorte halten würden. Die zumeist ziemlich ungebildeten Trader gelten schon als überqualifiziert, wenn sie ihre Adressen richtig buchstabieren können, und der Professor, mit dem ich hier zusammensaß, hatte tatsächlich die epiphänomenale Meinung, sie hätten, um einen Optionspreis festlegen zu können, Mathematik studiert. Was mich betraf, so hatte ich durch Versuch und Irrtum gelernt, wie man diese komplizierten Berechnungen anstellt, und indem ich das Wissen von erfahrenen Leuten anzapfte. Erst später hörte ich, dass es diese Theoreme gab.
    Damals ging mir ein Licht auf. Keiner würde behaupten, dass ein Kind, das die verschiedenen Aerodynamik-Theorien nicht kennt und außerstande wäre, eine Bewegungsgleichung zu lösen, nicht lernen könnte, wie man Fahrrad fährt. Warum also übertrug mein Gegenüber diese Erkenntnis nicht einfach von einem Bereich auf andere? Offenbar war ihm nicht klar, dass die Hauptbeschäftigung dieser Parkett-Trader in Chicago darin besteht, auf Angebot und Nachfrage zu reagieren, und dass jeder für sich Geld machen will, wozu er das Girsanov-Theorem genauso wenig braucht wie ein Pistazienhändler im Suk von Damaskus, der ja auch keine Gleichgewichtsgleichungen lösen können muss, um einen Preis für sein Produkt festzulegen.
    Einen Moment lang fragte ich mich, ob ich auf einem anderen Stern lebe, oder ob der Doktortitel und die Forschungslaufbahn des Gentleman zu dieser Blindheit und diesem auffälligen Mangel an gesundem Menschenverstand geführt hatten – oder ob womöglich gar nur Menschen ohne praktische Vernunft Energie und Interesse dafür übrig haben, einen Doktortitel in der fiktionalen Welt der Wirtschaftswissenschaften zu erwerben. Haben wir es hier mit einem Auswahlfehler zu tun?
    Ich roch Lunte und war ganz aufgeregt, aber mir war klar, dass ich dieser Spur nicht allein nachgehen konnte; ich musste jemanden finden, der sowohl über Forschungs- als auch, wichtiger noch, über Praxiserfahrung verfügte. Ich kannte nur eine Person, die dafür in Frage kam, einen Trader, der sich dann ebenfalls der Forschung zugewandt hatte: Espen Haug. Ihm musste dieser Mechanismus doch auch aufgefallen sein. Er hatte wie ich seinen Doktortitel erst nach seiner Zeit in den Handelsräumen erworben. Wir fingen also sofort an, den Ursprung der Optionspreisformel aufzuspüren, mit der wir arbeiteten: Was hatte man davor benutzt? Können wir dank der akademisch abgeleiteten Formel agieren, oder entwickelte sich die Formel aus irgendeinem antifragilen, evolutionsgesteuerten Entdeckungsprozess, der auf Versuch und Irrtum beruhte und den sich die Akademiker erst im Nachhinein angeeignet hatten? Aus meiner eigenen Zeit als Parkett-Trader in Chicago hatte ich bereits eine Ahnung, wie die Antwort aussehen würde – damals hatte ich Trader mit langjähriger Erfahrung beobachtet, die die Verwendung mathematischer Formeln strikt ablehnten. Sie arbeiteten mit einfachen Heuristiken und gingen nach dem Grundsatz vor: »Echte Männer benutzen kein Papier« – als »Papier« bezeichneten sie die Computerausdrucke mit den Ergebnissen komplexer Formeln. Und genau solche Leute haben sich durchgesetzt. Ihre Preisgestaltung war hoch komplex und effizienter als diejenige, die sich aufgrund von Formeln ergab, und es lag auf der Hand, was zuerst dagewesen war. Beispielsweise bezogen diese Preise auch die Existenz von Extremistan und die »Fat-Tail-Verteilung« mit ein, die bei den Standardformeln außen vor blieben.
    Haugs Interessen gehen in eine etwas andere Richtung als die meinen: Er beschäftigte sich mit dem Gegenstand des Finanzwesens und sammelte historische Aufzeichnungen von Praktikern. Er bezeichnete sich selbst als »Der Sammler«, benutzte das sogar als Unterschrift, wenn er Bücher und Artikel über Optionstheorie zusammentrug, die vor dem Ersten Weltkrieg verfasst worden waren. Davon ausgehend konnten wir sehr präzise darstellen, was geschehen war. Wir fanden überraschend viele Belege dafür, dass das Wissen der Trader sehr viel differenzierter und ausgereifter war als die Formel. Außerdem war ihre Erfahrung mindestens ein Jahrhundert älter als die Formel. Ihr

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