Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)
hätte. Die Konstrukteure waren auf die Ingenieure angewiesen, die wussten, wie die einzelnen Teile zu handhaben und zu verbinden waren, damit die Maschine funktionierte. Die Theorie hinkte der Praxis hinterher; sie kam erst später, um die intellektuellen Erbsenzähler zu befriedigen. In den Standardwerken zur Technikgeschichte bekommen Sie das allerdings nicht zu lesen: Meinem Sohn, der Luftfahrttechnik studiert, war es völlig neu. Der höfliche Scranton stellte lediglich Zusammenhänge dar, in denen Innovationsprozesse undurchschaubar verlaufen, »im Unterschied zu den uns vertrauteren analytischen und synthetischen Innovationsvorstößen« – als wären Letztere die Norm, was offensichtlich nicht der Fall ist.
Ich hielt Ausschau nach weiteren Fällen, und der Technikhistoriker David Edgerton berichtete mir von einem ziemlich schockierenden Beispiel. Wir glauben zu wissen, die Kybernetik – von der der Begriff »cyber« in »Cyberspace« abgeleitet ist – sei eine Erfindung von Norbert Wiener aus dem Jahr 1948. Der Historiker für Ingenieurswissenschaften David Mindell widerlegte diese Geschichte; er zeigte, dass Wiener Ideen über Feedback-Kontrolle und digitales Rechnen aufzeichnete, die in der Welt der Ingenieure schon längst in Gebrauch waren. Aber immer noch sind die meisten Menschen – und nicht zuletzt die heutigen Ingenieure – der irrigen Auffassung, dass wir dieses Feld den mathematischen Theorien Wieners verdanken.
Dann kam mir folgender Gedanke. Wir alle lernen Geometrie aus Lehrbüchern, die auf Axiomen basieren – beispielsweise aus Euklids Elementen –, und wir glauben, wir hätten es diesen Lehrbüchern zu verdanken, dass wir heute an Gebäuden so wunderbare geometrische Formen vorfinden, angefangen bei Häusern bis zu Kathedralen; etwas anderes anzunehmen wäre fast blasphemisch. Ich vermutete daher, dass die Menschen der Antike deshalb ein Interesse an der euklidischen Geometrie und anderen Bereichen der Mathematik entwickelten, weil sie diese Methoden, die sich aus Tüfteleien und erfahrungsgeneriertem Wissen ableiteten, bereits anwandten – ansonsten hätte keiner danach gefragt. Das ähnelt der Geschichte mit dem Rad: Wir erinnern uns, dass die Dampfmaschine bereits gut zweitausend Jahre vor der Industriellen Revolution von den Griechen erfunden und entwickelt worden war. Es ist einfach so, dass konkrete Handlungsverläufe lieber aus der Praxis als aus der Theorie geboren werden.
Schauen Sie sich jetzt einmal die architektonischen Erzeugnisse in unserer Umgebung an: Sie machen einen geometrisch äußerst ausgeklügelten Eindruck, angefangen bei den Pyramiden bis zu den herrlichen Kathedralen in Europa. Ein Dummkopf würde uns glauben machen, dass diese wunderbaren Bauwerke aus der Mathematik geboren wurden – abgesehen von einigen wenigen Ausnahmen wie den Pyramiden, die entstanden, bevor uns Euklid und andere griechische Theoretiker die formale Mathematik schenkten. Aber hier sind die Fakten: Architekten (die damals als Werkmeister bezeichnet wurden) arbeiteten mit Heuristiken und empirischen Methoden und Hilfsmitteln; kaum jemand verstand etwas von Mathematik – nach Auffassung des auf das Mittelalter spezialisierten Wissenschaftshistorikers Guy Beaujouan wussten vor dem 13. Jahrhundert nicht mehr als fünf Personen in ganz Europa, wie man eine Division durchführte. Es gab weit und breit keine Theoreme. Doch die Baumeister kannten die Widerstandsfähigkeit von Materialien auch ohne die Gleichungen, mit denen heute gearbeitet wird – die Bauten von damals stehen zu einem großen Teil immer noch. Villard de Honnecourt, ein französischer Architekt des 13. Jahrhunderts, dokumentiert in mehreren Zeichnungen und Notizensammlungen in pikardischer Sprache (der Sprache der französischen Region Picard), wie Kathedralen gebaut wurden: Man arbeitete mit versuchsgestützten Heuristiken, kleinen Tricks und Regeln, die dann später von Philibert de l’Orme in seinen architektonischen Abhandlungen festgehalten wurden. Beispielsweise wurde ein Dreieck durch einen Pferdekopf visualisiert. Experimentieren lässt Menschen sehr viel umsichtiger vorgehen als die Umsetzung von Theorien.
Des Weiteren können wir ziemlich sicher sein, dass die grandiosen römischen Baumeister ihre Aquädukte ohne die Anwendung mathematischer Regeln bauten (die römischen Zahlen waren für eine quantitative Analyse keine sehr gute Grundlage). Andernfalls würden diese Bauwerke nicht mehr stehen, denn eine
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