Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)
Wissen bildete sich durch natürliche Selektion heraus, durch Weitergabe von einer Generation an die nächste, durch Lernen von erfahrenen Praktikern und nicht zuletzt durch die eigene Erfahrung.
Trader treiben Handel ➝ Trader bilden Techniken aus ➝ Wirtschaftswissenschaftler entwickeln Formeln und behaupten, Trader würden damit arbeiten ➝ junge Trader glauben den Wissenschaftlern ➝ alles fliegt in die Luft (da die Theorie Fragilität zur Folge hat)
Unser Aufsatz blieb fast sieben Jahre lang liegen, bevor er von einem wirtschaftswissenschaftlichen Fachblatt veröffentlicht wurde – und was bis dahin kaum einmal vorgekommen war: Er entwickelte sich zu einem der am häufigsten aus dem Internet heruntergeladenen Aufsätze in der Geschichte der Wirtschaftswissenschaften, wurde jedoch in den ersten paar Jahren nicht ein einziges Mal zitiert. Keiner wollte schlafende Hunde wecken. 51
Praktiker schreiben nicht, sie handeln. Vögel fliegen, und diejenigen, die ihnen das Fliegen beibringen wollen, sind dieselben, die ihre Geschichte aufzeichnen. Man kann also unschwer erkennen, dass Geschichte tatsächlich von Losern geschrieben wird, die über viel Zeit und einen sicheren akademischen Posten verfügen.
Die größte Ironie aber besteht darin, dass wir sozusagen aus erster Hand beobachten konnten, wie die Geschichte des Denkens entsteht. Wir hatten das Glück, ganz unmittelbar ein weiteres Beispiel für unverfrorene intellektuelle Ausbeutung geliefert zu bekommen: Man lud uns ein, in der renommierten Wiley Encyclopedia of Quantitative Finance von unserer Warte als Praktiker aus unsere Sicht der Dinge darzustellen. Wir verfassten also eine Version des bereits vorliegenden Aufsatzes, in die wir auch unsere eigenen Erfahrungen einarbeiteten. Und dann der Schock: Wir ertappten den verantwortlichen Herausgeber der historischen Abteilung, einen Professor des Barnard College, auf frischer Tat dabei, wie er versuchte, unsere Darstellung abzuändern. Er, ein Spezialist auf dem Bereich der Entwicklung der theoretischen Grundlagen der Wirtschaftswissenschaften, war im Begriff, unsere Geschichte umzuschreiben, um ihre Quintessenz herunterzuspielen, wenn nicht gar umzukehren, und die Entwicklungsrichtung der Wissensentstehung in ihr Gegenteil zu verkehren. Wir erlebten sozusagen das »Making of« von Wissenschaftsgeschichte aus erster Hand. Dieser Typ in seinem Büro im Barnard College gab also jetzt uns vor, was wir als Trader sahen, und erwartete von uns, dass wir das, was wir mit eigenen Augen gesehen hatten, mit seiner Logik überschrieben.
Dann stieß ich im Bereich der Wissensbildung auf einige weitere Umkehrungen dieser Art. Beispielsweise leitete der Berkeley-Professor und amtlich beglaubigte Fragilist Mark Rubinstein in einem Ende der 1990er Jahre entstandenen Buch bestimmte Techniken und Heuristiken von Publikationen ab, die Professoren des Finanzwesens verfasst hatten. Dabei ging es um Heuristiken, die für uns Praktiker seit den 1980er Jahren, als ich in das Geschäft einstieg, vollkommen selbstverständliche Praxis waren.
Es stimmt einfach nicht, dass wir Theorien auf die Praxis übertragen. Von der Praxis ausgehend, erstellen wir Theorien. So sieht unsere Geschichte aus, und aus ihr und ähnlichen Geschichten lässt sich leicht ableiten, dass sich die Verwirrung nicht nur auf den Finanzmarkt beschränkt. Die Theorie ist das Kind des Verfahrens, nicht umgekehrt – ex cura theoria nascitur .
Der Beweis liegt auf der Hand
Auch Ingenieure wurden von Historikern vereinnahmt. Nur kurze Zeit nach der beschriebenen üblen Episode stellte ich im Institut für Wissenschaftssoziologie an der London School of Economics einen Aufsatz vor, den ich zusammen mit Espen Haug über das Thema »Flugunterricht für Vögel« und seinen Zusammenhang mit dem Finanzwesen verfasst hatte. Natürlich erntete ich herbe Kritik (ich war damals allerdings schon ziemlich geübt darin, von Wirtschaftswissenschaftlern in die Zange genommen zu werden). Dann kam die Überraschung: Nach Abschluss der Sitzung erfuhr ich von den Organisatoren, dass genau eine Woche zuvor Phil Scranton, Professor an der Rutgers University, exakt dieselbe Geschichte erzählt hatte. Dabei war es nicht um die Optionsformel, sondern um das Düsentriebwerk gegangen. Scranton hatte gezeigt, dass Düsentriebwerke in einer von Versuch-und-Irrtum-Prozessen bestimmten, experimentellen Weise entwickelt und gebaut wurden, ohne dass je jemand die Theorie richtig verstanden
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