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Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)

Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)

Titel: Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nassim Nicholas Taleb
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offenkundige Nebenwirkung der Mathematik besteht darin, dass Winkel zu stark optimiert und abgeschnitten werden, was Fragilität zur Folge hat. Man sieht ja, wie viel vergänglicher das Neue im Vergleich zum Alten ist.
    In Vitruvs Handbuch De architectura , der Bibel der Architekten, die etwa dreihundert Jahre nach Euklids Elementen entstand, findet sich kaum formale Geometrie, und natürlich wird Euklid namentlich überhaupt nicht erwähnt; das Werk versammelt in erster Linie Heuristiken, die Art von Wissen, die ein Meister an seine Schüler weitergibt. (Bezeichnenderweise ist der wichtigste mathematische Befund, den Vitruv erwähnt, der Satz des Pythagoras – der Autor zeigt sich verblüfft von der Tatsache, dass ein rechter Winkel »ohne die Instrumente eines Handwerkers« konstruiert werden kann.) Mathematik war bis zur Renaissance nichts weiter als eine Grundlage für Denkspiele.
    Damit will ich nicht sagen, dass nicht doch hinter einigen praktischen Techniken akademisches Wissen oder Theorien stehen, die zur Erreichung des zentralen Ziels (nicht für irgendwelche peripheren Zwecke) unmittelbar aus der Wissenschaft abgeleitet worden wären – der Wissenschaftler Joel Mokyr nennt das eine »epistemische Grundlage« oder propositionales Wissen, eine Art Sammlung formalen »Wissens«, das theoretische und empirische Entdeckungen umfasst und sich zu etwas wie einem Regelwerk entwickelt, welches seinerseits dazu verwendet wird, mehr Wissen und (seiner Auffassung nach) mehr Anwendungen hervorzubringen. Mit anderen Worten: Ein Bestand an Theorien, aus dem weitere Theorien direkt abgeleitet werden können.
    Aber lassen Sie uns keine Dummköpfe sein: Wenn man Herrn Mokyr Glauben schenkt, müsste man Wirtschaftsgeographie studieren, um Prognosen zur Entwicklung der Devisenkurse anstellen zu können (zu gern hätte ich ihn dem Grünholz-Experten vorgestellt). Ich stelle die Existenz einer epistemischen Grundlage nicht in Abrede, aber ich glaube nicht, dass sie in der Geschichte der Technikentwicklung eine große Rolle gespielt hat. Es gibt keine Hinweise darauf, dass sie einen starken Einfluss ausgeübt hätte, und ich warte nach wie vor darauf, dass mir dieser Einfluss von irgendjemandem belegt wird. Mokyr und die Anhänger seiner Sicht können nicht beweisen, dass es sich nicht um Epiphänomene handelt – und sie verstehen auch offenbar die Implikationen asymmetrischer Effekte nicht. Welche Rolle spielt hier die Optionalität?
    Es gibt einen Bestand an Know-how, der von Meister zu Schüler weitergegeben und nur auf diese Art und Weise überliefert wurde – mit graduellen Unterschieden zum Zweck der Selektion oder um den Berufsstand respektabler zu machen oder um hier und da zu helfen, was aber nicht systematisch geschah. Die Rolle dieses formalen Wissens wird einfach aus dem Grund überschätzt, weil sie in hohem Maße sicht- und begreifbar ist.
    So ähnlich wie Kochen?
    Kochen scheint eine Tätigkeit zu sein, die ganz und gar auf Optionalität beruht. Sie fügen eine Zutat hinzu und haben die Option, das Ergebnis zu behalten, wenn es den Geschmacksknospen von Fat Tony behagt, oder »fuhgetaboudit«, wenn nicht. Und wir betreiben eine Art kollektives Experimentierfeld à la Wiki, aus dem ein fester Bestand an Rezepten erwächst. Diese Rezepte haben sich vollkommen außerhalb von Spekulationen über die Chemie der Geschmacksknospen entwickelt, sie entbehren jeglicher »epistemischen Grundlage«, mit der sich Theorien aus Theorien ableiten ließen. Bislang wurde noch niemand von diesem Prozess aufs Glatteis geführt. Von Dan Ariely stammt die Beobachtung, dass der Geschmack von Lebensmitteln nicht aus dem Studium der Nährwerttabellen ableitbar ist. Und wir können unmittelbar den Einfluss der Heuristiken unserer Vorfahren erkennen: Generationenlanges kollektives Tüfteln mündet in der Evolution von Kochrezepten. Diese Rezepte sind Bestandteil einer jeden Kultur. Kochschulen beruhen voll und ganz auf der direkten Weitergabe von Wissen vom Meister an seine Lehrlinge.
    Auf der anderen Seite steht die reine Physik, in der Theorien zu weiteren Theorien führen, die einen gewissen empirischen Niederschlag haben. Hier kann die »epistemische Grundlage« eine gewisse Rolle spielen. Die Entdeckung des Higgs-Teilchens ist ein modernes Beispiel für etwas, das ausschließlich aus theoretischen Überlegungen abgeleitet wurde. Dasselbe gilt für Einsteins Relativitätstheorie. (Eine ähnlich spektakuläre Entdeckung aufgrund nur

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