Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)
Alles falsch – und nicht nur Einzelpersonen, sondern ganze Wissenschaftszweige geraten bei dieser Frage durcheinander; der Fehler taucht in jedem Wörterbuch der Synonyme und Antonyme auf, das ich konsultiert habe.
Man kann es auch so umschreiben: Da das Gegenteil von positiv negativ ist und nicht neutral , müsste das Gegenteil von positiver Fragilität negative Fragilität sein (daher auch mein Begriff »Antifragilität«), kein neutraler Zustand, der lediglich Robustheit, Festigkeit oder Unzerbrechlichkeit abdeckt. Würde man die Begriffe mathematisch formulieren, dann wäre Antifragilität Fragilität mit einem Minuszeichen davor. 5
Dieser blinde Fleck ist offenbar universell verbreitet. Es gibt in den wichtigen bekannten Sprachen – seien es moderne oder alte Sprachen, Umgangssprache oder Slang – kein Wort für »Antifragilität«. Auch das Russische (der ehemaligen Sowjetunion) und das Standard-Brooklyn-Englisch haben offenbar keine eigene Bezeichnung für Antifragilität, sondern vermischen den Begriff mit dem der Robustheit. 6
Es fehlt uns also für die Hälfte allen Lebens – und ausgerechnet für die interessantere Hälfte – ein Begriff.
Seien Sie doch so nett und schlagen Sie mir den Kopf ab
Zwar gibt es keine allgemein übliche Bezeichnung für Antifragilität, aber es lässt sich ein Äquivalent in der Mythologie – dem Ausdruck historischer Intelligenz in wirkmächtigen Gestalten und Bildern – finden. In einer römisch aufbereiteten Version eines griechischen Mythos ermöglicht der sizilische Tyrann Dionysos II . dem Höfling Damokles, den Luxus eines üppigen Banketts zu genießen, allerdings hängt über seinem Haupt ein Schwert, das nur mit einem Rosshaar an der Decke befestigt ist. Solch ein Rosshaar gehört zu jenen Dingen, die unter Druck irgendwann nachgeben, was dann zu einem blutigen Szenario führt, zu schrillen Schreien und der antiken Entsprechung von Blaulichtgewitter. Damokles ist fragil – es ist nur eine Frage der Zeit, bis er von dem Schwert dahingerafft wird.
In einer anderen Geschichte aus der Antike – diesmal einer griechischen Aufbereitung eines alten semitischen und ägyptischen Motivs – taucht Phönix auf, ein Vogel mit fantastisch farbigem Gefieder. Wenn er stirbt, geht er in Flammen auf und wird anschließend aus seiner eigenen Asche wiedergeboren. Immer wieder kehrt er zu seiner ursprünglichen Form zurück. Der Phönix ist das alte Symbol von Beirut, der Stadt, in der ich aufwuchs. Der Legende zufolge wurde Berytos (wie Beirut früher hieß) in seiner fast fünftausendjährigen Geschichte sieben Mal zerstört und sieben Mal wieder aufgebaut. Die Symbolik erscheint mir plausibel, war ich doch selbst Zeuge der achten Episode: Während meiner späten Kindheit wurde infolge des brutalen Bürgerkriegs die Stadtmitte von Beirut (der antike Teil der Stadt) zum achten Mal vollständig zerstört. Und ich erlebte auch den achten Wiederaufbau mit.
Beirut wurde allerdings nach dieser letzten Zerstörung besser wieder aufgebaut als je zuvor – mit einer zusätzlichen ironischen Wendung: Beim Erdbeben des Jahres 551 n. Chr. war die römische Rechtsschule unter den Trümmern begraben worden und tauchte nun beim Wiederaufbau wie ein Bonusgeschenk der Geschichte wieder auf (was dazu führte, dass sich Archäologen und Bauunternehmer in der Öffentlichkeit gegenseitig Beleidigungen an den Kopf warfen). Das ist mehr als Phönix, es geht über die Idee des Robusten hinaus. Womit ich bei Hydra, der dritten mythologischen Gestalt, angekommen bin.
Hydra ist in der griechischen Mythologie eine schlangenähnliche Kreatur, die im See von Lerna in der Nähe von Argos lebte. Sie hatte mehrere Köpfe. Jedes Mal, wenn ein Kopf abgeschlagen wurde, wuchsen zwei nach. Schädigungen sind für die Hydra also etwas Nützliches. Und die Hydra steht für Antifragilität.
Das Schwert des Damokles symbolisiert die Nebenwirkungen von Macht und Erfolg: Man wird kein mächtiger Herrscher, ohne mit der ständigen Gefahr konfrontiert zu sein, irgendjemand da draußen arbeite daran, den Herrschenden zu stürzen. Und ebenso wie das Schwert über Damokles ist diese Gefahr still, unerbittlich und unberechenbar. Sie wird nach langen Phasen der Ruhe herniedersausen, womöglich genau in dem Moment, da man sich daran gewöhnt und ihre Existenz praktisch vergessen hat. Es sind Schwarze Schwäne da draußen, und der Mächtige wird ihnen zum Opfer fallen, denn er hat jetzt sehr viel mehr zu verlieren –
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