Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)
Mithridatisation nennen. Impfungen und Allergietherapien funktionieren nach diesem Prinzip. Antifragilität ist das noch nicht, wir bewegen uns immer noch im Bereich der Robustheit, aber wir sind auf dem richtigen Weg. Und wir haben nun bereits einen Hinweis darauf, dass uns der Entzug eines Gifts fragil macht und dass der Weg zur Robustheit mit einer Schädigung in kleinem Umfang beginnt.
Man stelle sich nun den Fall vor, dass eine gewisse Menge der giftigen Substanz das Wohlbefinden insgesamt steigert, was noch einen Schritt über die Robustheit hinausginge. Hormesis, ein aus der Pharmazie stammender Begriff, liegt vor, wenn eine kleine Dosis einer schädlichen Substanz auf den Organismus einen positiven Effekt hat, also als Medizin wirkt. Eine kleine Menge einer ansonsten schädlichen Substanz – nicht zu viel – ist für den Organismus nützlich und verbessert den Gesamtzustand, indem sie eine gewisse Überreaktion hervorruft. Damals verstand man dieses Phänomen weniger in dem Sinn, dass »Schädigung nützt«, sondern eher dahingehend, dass »Schädigung« beziehungsweise »ein Medikament abhängig von der Dosierung« sei. Die Wissenschaft interessierte sich mehr für die Nichtlinearität der Dosis-Wirkungs-Beziehung.
Hormesis war in der Antike wohlbekannt (aber wie die Farbe Blau nicht explizit benannt). »Wissenschaftlich« beschrieben wurde das Phänomen erst im Jahr 1888 (wenn auch immer noch nicht mit einem Namen versehen), und zwar durch den deutschen Toxikologen Hugo Schulz, der beobachtete, dass kleine Mengen Gift das Wachstum von Hefe stimulieren, während größere Mengen es beeinträchtigen. Einige Forscher sind der Auffassung, der gesundheitliche Nutzen von Gemüse stecke weniger in dem, was man gemeinhin »Vitamine« nennt, oder in anderen rationalisierenden Theorien (also Ideen, die in narrativer Form sinnvoll klingen, aber noch keinen strengen empirischen Tests unterworfen wurden), sondern sei möglicherweise auf Folgendes zurückzuführen: Pflanzen schützen sich vor Schädigungen und wehren sich gegen Raubtiere mit giftigen Substanzen, die, wenn sie vom Menschen in der richtigen Menge aufgenommen werden, unseren Organismus stärken – jedenfalls gibt es Vermutungen in diese Richtung. Auch hier hätte man es mit dem Phänomen zu tun, dass niedrige Gaben von Gift vorteilhaft für die Gesundheit sind.
Vielfach wird behauptet, eine Beschränkung der Kalorienzufuhr (auf Dauer oder phasenweise) aktiviere gesunde Reaktionen und Umschaltprozesse, die neben anderen günstigen Auswirkungen bei Versuchstieren auch die Lebenserwartung erhöhen. Die Lebenserwartung des Menschen ist zu hoch, als dass es Forschern möglich wäre zu testen, ob die Vermutung tatsächlich zutrifft (wenn die Hypothese stimmt, würden die Forscher vor den Testpersonen sterben). Allerdings hat es den Anschein, als mache eine derartige Beschränkung die Menschen gesünder (und verbessere außerdem ihren Sinn für Humor). Und da Überfluss den entgegengesetzten Effekt hat, kann eine zeitweilige Kalorieneinschränkung auch folgendermaßen interpretiert werden: Zu regelmäßiges Essen ist schädlich, es entzieht dem Menschen den Stressor Hunger und führt unter Umständen dazu, dass er nicht sein gesamtes Potential ausschöpfen kann; Hormesis bewirkt also nichts anderes, als dass beim Menschen die natürliche Balance von Nahrung und Hunger wieder hergestellt wird. Mit anderen Worten: Hormesis ist der Normalfall, und was uns schadet, ist ihre Verhinderung.
Nach den 1930er Jahren geriet Hormesis in Verruf, die Wissenschaft verlor das Interesse daran, und sie spielte auch in der Praxis nur noch eine geringe Rolle, da sie von einigen Leuten fälschlich mit der Homöopathie in Verbindung gebracht wurde. Der Vergleich war unangemessen, denn die Methoden der beiden Richtungen unterscheiden sich von Grund auf. Homöopathie beruht auf anderen Prinzipien: Winzige, hoch aufgelöste Teile von Krankheitserregern (in so geringer Menge, dass sie kaum mehr wahrnehmbar sind, von daher auch keine Hormesis verursachen können) werden als Heilmittel gegen die betreffende Krankheit eingesetzt. Es gibt für die Homöopathie kaum empirische Belege, sie gehört aufgrund ihrer Testverfahren heute zur Alternativmedizin, wohingegen das Phänomen der Hormesis ausreichend wissenschaftlich untersucht ist.
Entscheidender aber ist, was sich nun immer deutlicher abzeichnet: Es ist nicht unbedingt sinnvoll und gut, Systeme von Stressoren – lebensnotwendigen
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