Antiheld (German Edition)
Minuten sitzen und versuche, meine Gedanken zu ordnen. Ich öffne den Kühlschrank. Die Rouladen stopfe ich kalt in mich hinein, das Bier öffne ich mit meinem Feuerzeug und trinke es in einem Zug halb leer. Im Arbeitszimmer fahre ich den Rechner runter und packe den USB-Stick in die Hosentasche. Das Haus verlasse ich durch die Vordertür.
Tagebuch Nimkin
Heute habe ich meine Mutter verfolgt. Das war überhaupt nicht geplant. Ich habe in den Arkaden ein wenig Zerstreuung gesucht und sie dabei im Dessous-Laden entdeckt. Sie hat Unterwäsche eingekauft und sich dann in diesem beschissenen Yuppie-Restaurant im vierten Stock mit einem Typen getroffen, der kaum älter ist als ich. Ein adretter Wichser, Anzug, braun gebrannt und durchtrainiert. Wahrscheinlich ein Geschäftsessen.
Danach haben sie sich auf das oberste Parkdeck verzogen und in einer schmutzigen Ecke hinter ihrem Audi gefickt. Sie hat sich von hinten nehmen lassen, ich konnte sehen, wie sie sich an der Seitenscheibe abgestützt hat.
Ich habe die beiden vom unteren Deck aus beobachtet, und für einen kurzen Moment trafen sich unsere Blicke. Keine Ahnung, ob sie mich erkannt hat. In ihrer lustverzerrten Fratze erkannte ich Teile von mir selbst, genauso wie im Gesicht meines Alten, wenn er auf mir abspritzt. Manchmal wünsche ich mir, sie würden in diesen Momenten erstarren, damit ich sie so lange betrachten kann, wie ich will.
Früher habe ich mir jeden Tag vorgestellt, wie ich meinen Alten prügele, bis er aufhört zu atmen. Diese Vorstellung drehte sich in meinem Kopf wie eine Endlosschleife. Endlich war ich stark genug, ihn zu überwältigen, ihm Schmerzen zuzufügen. Doch danach kam nie Katharsis, sondern immer nur Leere. Dann habe ich mich vor den Spiegel gestellt und gefragt: Warum ich? Was ist schon an diesem mageren Körper mit der eingefallenen Brust? Ich verstehe es nicht.
Heute stelle ich mir nichts mehr vor. Ich schweige und stecke Geld, Playstation-Spiele und Klamotten ein, obwohl es mich anwidert, obwohl ich mich selber anwidere. In der Dunkelheit frage ich mich: Bin ich an alledem schuld? Ich habe mich zu seinem Komplizen machen lassen und den Absprung verpasst. Wem hätte ich es erzählen sollen, ohne noch mehr Schmerzen zu verursachen? Ohne alles kaputtzumachen?
Hypnagog
Ich weiß nicht mehr, wann das alles genau begann. Ich weiß nur, dass es passiert, dass es Realität ist. Dass er Realität und keine Erfindung meiner Fantasie ist. Ich weiß, dass er gerissen und intelligent, der perfekte Jäger ist, der jede Schwäche gnadenlos ausnutzt.
Der Hypnagog ist der schwierigste Levelboss , den es in Evil Empire gibt. Finn muss ihn besiegen, wenn er das Spiel gewinnen will.
Er trinkt die Dose Pornostar leer und steuert Ravachol durch das Labyrinth. Sein Mobiltelefon klingelt, Finn sieht kurz auf. Das reicht dem Hypnagog : Blut spritzt, d as Spiel ist vorbei.
Finn schließt die Augen, zeigt dem Bildschirm den Mittelfinger, dann nimmt er das Gespräch an.
«Hi, hier ist Claire!»
«Claire …»
Er kann sich nicht daran erinnern, ihr seine Nummer gegeben zu haben.
«Was machst du gerade?»
«Ich zocke Evil Empire . Und du?»
«Ich liege nackt auf dem Bett und denke an dich …»
«Was! Echt? Krass!»
Er hört, wie sie ein Lachen unterdrücken muss.
«Wir sollten uns mal wiedersehen!»
«Ja», antwortet er, «ich glaube, das ist kein Problem!»
Tagebuch Nimkin
Ein Traum wie ein Bild von Hieronymus Bosch. Ich bin zwölf Jahre alt und fahre mit meinem BMX-Rad zur Anhöhe vor den Ruinen des Irrenhauses. Der Himmel ist schwarz. Man kann den Sturm, der aufzieht, riechen. Und dann gehen Tropfen wie kleine Nadelstiche auf meiner Haut nieder, binnen Sekunden bin ich nass. Die Umgebung wird zu einer Skizze, der lehmige Boden weicht auf, die Räder drehen durch. Er taucht aus dem Regen auf, ich kann nicht mehr reagieren. Die Wucht des Zusammenpralls reißt ihn von den Beinen und mich über den Lenker. Einen Moment lang schwebe ich in der Luft und lande im Schlamm. Ich bleibe benommen liegen, bis ich eine kalte Hand an meiner Schulter spüre.
Sein Gesicht ist durch eine lange Kapuze verdeckt, von der Regentropfen wie kleine Glasperlen herunterfallen. Der Mantel betont seine schiere Masse wie ein Ausrufezeichen. Feine Luftwellen gehen von ihm aus. Ich stehe auf. Mein Rad ist zerstört. Mir bleibt keine andere Möglichkeit, als zu laufen.
«Du kannst nicht weitergehen!» Er schüttelt langsam den Kopf. «Es ist zu gefährlich!»
Ich
Weitere Kostenlose Bücher