Antiheld (German Edition)
das Lichtermeer einen expressionistischen Schlagschatten wirft. Die Autos wirken wie vibrierende Blutkörperchen, die durch die Adern eines offen liegenden Organismus gepumpt werden.
Ich sehe die steilen Mauern hinab. Baumkronen verdecken mir die Sicht, doch ich weiß, dort unten ist eine Plattform aus Beton. Auf dieser Plattform würde ich zerschellen wie eine reife Frucht. Hier würde alles enden. Doch ich kann nicht. Ein letzter Part fehlt noch.
Die Revision des Regenbogens
Das Haus von Hillemann ist zehn Stationen entfernt. Der Linienbus ist um diese Zeit fast leer. Ich sitze ganz hinten, strecke die Beine von mir und höre Musik auf dem iPod. Nichts denkend starre ich aus dem Fenster, bis die Station kommt, an der ich aussteigen muss. Hillemanns Haus ist das letzte der Straße.
Ich nehme einen kleinen Verbindungsweg. Niemand beobachtet mich, als ich über den Zaun springe. Der Pfleger ist um diese Zeit nicht mehr da. Er lässt das Küchenfenster immer auf Kipp stehen, mit drei Handgriffen habe ich es ganz geöffnet.
In der Küche riecht es nach Kresse und altem Müll. Ich kann dem Drang nicht widerstehen und öffne den Kühlschrank: Zwei verloren aussehende Flaschen Bier, eine Flasche Kindercola und mehrere Tupperdosen sind der einzige Inhalt. Ich hole eine Dose heraus und öffne sie: Rouladen in brauner Soße.
Ich ziehe meine Schuhe aus und steige die Treppe hoch. Zuerst sehe ich mir das Elend an und beobachte sie ein paar Minuten. Ihre Lider zucken, ab und zu öffnet sie die Augen. Ansonsten keine Regung. Vollkommen weggetreten, die Alte.
Im Arbeitszimmer starte ich den Rechner und hole den USB-Stick aus dem Rucksack. Ich würde alles geben, was ich habe, um den Gesichtsausdruck von diesem Drecksack zu sehen, wenn die Bullen den Clip finden. Vorsichtshalber habe ich die Datei mit den Tags Buffy und Star Trek versehen, damit sie von den Suchmasken der Bullen auch sofort gefunden werden. Jeder Schwachsinnige weiß, das neunzig Prozent aller Pädophilen auf diese Serien stehen, nur Hillemann nicht.
Der Computer fährt hoch. Auf dem Desktop befindet sich ein Ordner mit Namen Neue Bilder . Den sehe ich zum ersten Mal, sonst hat er nur Anwendungsprogramme auf dem Desktop. Ich öffne ihn mit einem Doppelklick. Die Thumbs brauchen lange, um zu laden, es sind hochwertige RAW-Dateien.
Ich versuche das erste Bild zu ignorieren. Es gelingt mir nicht. Ich muss wieder hinsehen. Nervös klicke ich auf die anderen Dateien im Ordner. Das geht alles viel zu langsam. Der Rechner ist scheißlahm.
Und dann: keine Erleichterung, kein Erbarmen. Der ganze Ordner ist voll mit Fotos von Vanessa. Irgendetwas in mir weigert sich, das zu akzeptieren. Mit zitternder Hand klicke ich durch die Dateien. Schon beim fünften Bild ist sie nackt und spreizt die Beine in Richtung Kamera. Auf dem nächsten hat Hillemann einen Finger in ihrer Pussy.
Der Ordner enthält einhundertzwölf Bilder und jedes davon ist eine Qual. Ich sehe mir alle an. Eins nach dem anderen. Das letzte Bild zeigt meine Schwester, lachend und Sperma auf ihren Brüsten verteilend. Ich erkenne sie kaum wieder. Das ist eine billige Schlampe aus einer Cum-Shot-Compilation, nicht meine Schwester.
Das alles sickert zuerst nur langsam in mein Bewusstsein. Irgendwann stehe ich auf und gehe in das Zimmer seiner Frau. Ich setze mich auf einen Stuhl neben ihrem Bett und weiß nicht, was ich tun soll.
Plötzlich hebt sie den Kopf. «Bernd?»
Ich erstarre. «Bernd, du bist es!», flüstert sie erleichtert. Ein Lächeln stülpt sich aus ihrem zahnlosen Mund. Sie röchelt und streckt mir ihre Hand entgegen.
Ich lege meine Hand zögerlich in ihre, und sie seufzt. Ich könnte ihr jetzt sagen, dass ich nicht Bernd, sondern Andor bin, dass ihr Mann ein widerlicher Kinderficker ist, aber ich kann nicht. Ihr Gesicht ist völlig ausgemergelt, man kann jeden Knochen erkennen. Ihr Husten klingt wie mechanisches Rasseln und ist so hart, dass es den schwachen Körper durchschüttelt. Gelbe Schleimbrocken, die mit Blutspuren versetzt sind, werden aus den Untiefen ihres Brustkorbs auf die Bettdecke befördert.
Ich drücke pathetisch ihre Hand, als ob das irgendetwas nützen, ihren Schmerz lindern würde. Sie holt angestrengt Luft und die fleckigen Hände zucken unkontrolliert. Schließlich dreht sie sich zur Seite, die Hälfte ihres Gesichts versinkt im Kissen, dann schließt sie entkräftet die Augen.
Ich gehe runter in die Küche und setze mich an den Küchentisch, bleibe ein paar
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