Antonias Wille
zugenommen, stellte Antonia mit einem Anflug von Mitleid fest. Wie kann ich so ruhig bleiben, während sich Julie derart quält?, fragte sie sich stumm und versuchte zum wiederholten Mal, einen Blick in ihr Innerstes zu werfen. Ihre Mutter, ihre eigene Mutter, die man nie ohne einen Rosenkranz in der Hand angetroffen hatte, war eine Mörderin gewesen. Erst Karl Moritz, dann Rosanna und ihr ungeborenes Kind. Warum erschreckte sie diese Erkenntnis so wenig? Oder war der Schrecken derart groÃ, dass er jedes andere Gefühl abtötete? Antonia wusste es nicht. Sie riss sich aus ihren Gedanken.
»Was haben Sie denn im Keller von Doktor Gärtner gefunden?«, fragte sie, weil sie wusste, dass Julie eine Reaktion von ihr erwartete. »Er ist übrigens mein Hausarzt â¦Â«
Julie rutschte auf dem Sessel nach vorn, beide Hände auf der Lehne aufgestützt.
»Nachdem wir fast drei Stunden gesucht hatten, fanden wir die besagte Kiste, von der Doktor Gärtner behauptete, dass sich darin uralte Krankenberichte befänden. Er hatte Recht!«
Ein nervöses Schulterzucken begleitete Julies Worte.
»Es handelte sich um die Krankenberichte von Doktor Wohlauf. Er war zur fraglichen Zeit der Dorfarzt gewesen, hatte sich aber auch um die Menschen im âºKuckucksnestâ¹ gekümmert, wenn der Hotelarzt einmal verreist war. Wir begannen also damit, die Dokumente zu durchsuchen. Es war gespenstisch, von Krankheit oder Tod all dieser Menschen zu lesen. Eine Frau hatte ein Kind mit einem Wasserkopf geboren und war daraufhin selbst ins Wasser gegangen. Eine andere war mit roten Pusteln zum Doktor gekommen, die sich als Pocken herausstellten. Daraufhin wurde die ganze Familie unter Quarantäne gestellt. Geburten, Kindstod, Armbrüche â dieser Doktor Wohlauf hat wirklich sehr genau Buch über seine Patienten geführt. An manche Berichte waren sogar Briefe geheftet â in diesen Fällen hatte er die Meinung eines Kollegen eingeholt. Und während wir all das durchblätterten, hoffte ich, mit meiner Vermutung Recht zu behalten. Immerhin wusste ich ja aus Simones Abschiedsbrief, dass es genau dieser Doktor Wohlauf aus Rombach gewesen war, der Rosanna in ihren letzten Stunden beigestanden hatte. Und so hoffte ich, dass auch er es war, der Simone damals ⦠Doktor Steiert, der Hotelarzt, schien sich zu jener Zeit gerade nicht im âºKuckucksnestâ¹ aufgehalten zu haben â wo er war, kann ich allerdings nicht sagen. Das ist leider auch ein Punkt, der wahrscheinlich immer unklar bleiben wird«, antwortete Julie nachdenklich.
Die junge Frau atmete tief durch, und Antonia versuchte sich zu wappnen für das, was nun noch kommen würde: die Art und Weise, wie sich ihre Mutter das Leben hatte nehmen wollen.
»Simone wollte sich im Spicher erhängen. Im Krankenbericht steht, dass sie schon halb ohnmächtig war, als Helmut sie fand. AuÃerdem steht darin, sie habe schwere Verletzungen am Hals und in der Genickgegend aufgewiesen. Und dass sie sehr verwirrt war, als sie wieder zu sich kam.«
»Verwirrt! Wann war meine Mutter eigentlich einmal nicht verwirrt!«, sagte Antonia mit brüchiger Stimme.
Julie schwieg betreten.
Seit dem späten Nachmittag saÃen sie nun schon beisammen. Als Julie angekommen war, hatte Antonia den Tisch bereits gedeckt. Obwohl sie sich seit ihrer Rückkehr aus der Reha-Klinik wieder selbst versorgte, hatte allein die Vorstellung, etwas Aufwändiges kochen zu müssen, sie erschöpft. Stattdessen hatte sie beim Metzger eine kalte Platte bestellt, an deren Rand sie Julies mitgebrachten Lachs platzierten.
Sie hatten sich gerade zum Essen niederlassen wollen, als es an der Tür klingelte. Es war Martina Breuer, die Frau von Antonias Neffen, die Wirtin des »Fuchsen«. Mit einer Neujahrsbrezel in der Hand hatte sie sich nach Antonias Wohlergehen erkundigt und dabei neugierig auf das Auto mit Freiburger Kennzeichen geschielt, das vor Antonias Haus parkte. Antonia wimmelte sie freundlich, aber bestimmt ab â die Verwandtschaft würde noch früh genug erfahren, was sie im Schilde führte.
Während des Essens hatten sie sich über Belanglosigkeiten unterhalten. Antonia berichtete von ihrer Kur, von den Anwendungen, die sie dort erhalten hatte, von den gymnastischen Ãbungen, zu denen sie täglich überredet worden war. »Ich und Sport! Ein Leben lang habe ich mich erfolgreich vor so
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