Anubis 02 - Horus
zu, auf den dieser allerdings nur mit einem hilflosen Schulterzucken reagierte. Er rührte sich jedoch auch nicht von der Stelle, um ihrer Einladung zu folgen.
»Inspektor Abberline kommt her?«, fragte Maistowe.
Bast gab keine weitere Erklärung ab, sondern trat im Gegenteil nur vollends vom Tisch zurück und wandte sich zur Treppe. »Konstabler Stowe, seien Sie doch so freundlich und erklären Sie Kapitän Maistowe, was passiert ist. Ich möchte nach dem Mädchen sehen und ein wenig ausruhen. Bitte rufen Sie mich, wenn der Inspektor eintrifft.«
Abberline kam erst kurz vor Mittag, aber damit hatte Bast insgeheim auch gerechnet. Sie war auch nicht überrascht gewesen, als ihre feinen Sinne ihr verraten hatten, dass Mrs Walsh und nur eine kleine Weile später auch Maistowe friedlich in ihren Sesseln vor dem Kamin eingeschlafen waren; vielleicht schon etwas mehr, als gar nicht lange danach auch Stowe der behaglichen Wärme und Stille erlag und wegzudämmern begann – schließlich war auch er nur ein Mensch und die ganze Nacht auf den Beinen gewesen.
Sie selbst schlief nicht, sondern hielt die ganze Zeit neben Cindys Bett Wache, obwohl es nicht einmal nötig gewesen wäre. Sie hatte tatsächlich getan, was Mrs Walsh ihr unterstellt hatte, und nicht nur dafür gesorgt, dass Cindy ihren Wunsch vergaß, in Maudes Bordell zurückzukehren, sondern auch dafür, dass sie mindestens bis zum Abend durchschlafen würde. Aber sie war sehr behutsam dabei vorgegangen. Statt dem Mädchen die Erinnerungen an die letzten drei oder vier Monate komplett zu nehmen – was sie gekonnt hätte, aber mit dem Risiko, ihm einen ernsthaften geistigen Schaden zuzufügen –, hatte sie nur dafür gesorgt, dass sie ein wenig verblassten und so verschwommen wie die an einen vielleicht schlimmen, aber überstandenen Albtraum wurden, und selbst das nicht auf Dauer. Aber wenn sie erst einmal ein wenig Abstand gewonnen und Zutrauen zu Mrs Walsh und ihr gefasst hatte, dann würde sie auch mit dieser schrecklichen Episode fertig werden. In diesem Punkt kam es ihr zugute, dass sie noch ein Kind war. Kinder waren sehr verwundbar, aber zugleich unglaublich stark. Bast nutzte die Zeit, um ebenfalls ein wenig zu entspannen – Schlaf brauchte sie nicht. Sie fühlte sich nach der Nacht mit Roy so erfrischt und stark und konnte Tage, wenn es sein musste Wochen ohne Schlaf auskommen – und über ihr begonnenes Gespräch mit Mrs Walsh nachdenken. So ungern sie es zugab: Mrs Walsh hatte recht. Sie hatte nicht eine Sekunde lang darüber nachgedacht, was mit dem Mädchen geschehen sollte, wenn sie sie erst einmal Maudes Zugriff entzogen hatte. Sie konnte nicht hierbleiben; das hätte sie nicht einmal gekonnt, wenn Mrs Walsh sich so vehement gegen diese Idee gewehrt hätte. Sie selbst würde in wenigen Tagen oder spätestens Wochen nicht mehr hier sein, um sie zu beschützen, und das East End war keine halbe Stunde zu Fuß entfernt. Selbst wenn Maistowe dort nicht bekannt gewesen wäre, wäre die Gefahr einfach zu groß, dass irgendjemand sie zufällig sah und Maude oder einem ihrer Handlanger davon erzählte. Bast erwog einen Moment lang den Gedanken, die alte Vettel zu töten und damit zumindest ein Problem aus der Welt zu schaffen, entschied sich aber dann dagegen. Sie konnte Maude beseitigen, nicht aber das Problem. Wenn sie nicht mehr da war, würde sofort jemand anders Maudes Platz einnehmen. Vielleicht ein Schlimmerer.
Die große Standuhr unten im Salon hatte bereits zwölf geschlagen, als sie das Geräusch einer Droschke hörte, die in die Straße einbog. Rasch verließ sie das Zimmer, eilte die Treppe hinab und kam gerade noch zurecht, um Stowes Sessel im Vorbeigehen einen kleinen Stupser zu versetzen, der ihn erschrocken hochfahren und sie im allerersten Moment verständnislos anblinzeln ließ. Als sie weiter zur Tür ging, hörte sie, wie er hinter ihr aufstand und sich mit den Händen über die Uniform fuhr, um die ärgsten Falten zu glätten.
Abberline sah genauso müde und übernächtigt aus wie alle anderen, aber sein Gesicht war zusätzlich noch von tiefen Sorgenfalten gezeichnet, die aller Schlaf der Welt nicht glätten konnte und die ihn um mindestens zehn Jahre älter erscheinen ließen, als er war. Als Bast ihm die Tür öffnete, bedankte er sich nur mit einem müden Lächeln und trat dann wortlos an ihr vorbei ins Haus. Bast warf einen raschen Blick auf die Straße hinaus und stellte fest, dass er nicht allein gekommen war. Sein Wagen
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