Anubis 02 - Horus
Kind?«
»Sicher«, antwortete Bast.
»Wie gesagt, es geht mich nichts an, und Sie müssen auch nicht auf mich hören, aber wenn Sie es trotzdem wollen, dann nehmen Sie den guten Rat einer alten Frau an und fangen erst morgen mit der Suche nach Ihrer Freundin an.«
»Warum?«
»Weil diese Straße in einem Viertel liegt, in dem sich eine anständige Frau nicht nach Dunkelwerden zeigen sollte«, antwortete Mrs Walsh. Wie bei ihrer Begrüßung trat bei dem Wort »anständig« ein verkniffener Zug in ihr Gesicht, und die Falten um ihre Mundwinkel wirkten härter.
Bast erschrak innerlich, wenn auch aus einem anderen Grund, als Mrs Walsh dies annehmen mochte. Konnte es sein, dass Isis …?
Nein, das war unmöglich.
»Wer sagt Ihnen denn, dass ich eine anständige Frau bin?«, fragte sie lächelnd.
»Meine Augen, mein Kind«, sagte Mrs Walsh mit einem neuerlichen, diesmal sehr gutmütigen Lächeln. »Und die Erfahrung eines langen Lebens.« Sie hob abwehrend die Hand, als Bast etwas sagen wollte. »Aber Sie sind nun einmal auch eine Frau von einem … exotischen Äußeren, und das könnte nur zu leicht dazu führen, dass gewisse Männer …« Jetzt spiegelte sich deutliche Verlegenheit auf ihrem Gesicht. Sie wusste ganz offensichtlich nicht, wie sie fortfahren sollte, ohne dabei Worte zu benutzen, die sich für eine anständige Frau nicht geziemten.
»… falsche Rückschlüsse ziehen?«, half Bast lächelnd aus.
»Ja«, sagte Mrs Walsh ernst. »Zumindest in dieser Gegend, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
Bast verstand nur zu gut. Und sie erschrak erneut und noch mehr. Isis war schon immer die Klügere und Überlegenere von ihnen beiden gewesen, zugleich aber auch die, die sich in gewissen Situationen nicht so gut in der Gewalt hatte, wie es manchmal angezeigt gewesen wäre. Sie zerbrach sich den Kopf über eine entsprechende Antwort, die sowohl Mrs Walsh als auch sie selbst beruhigt hätte, doch ihre Wirtin nahm ihr die Mühe ab, indem sie eine angedeutete, aber eindeutig wegwerfende Handbewegung machte, mit der sie das Thema offensichtlich für abgeschlossen erklärte.
»Verzeihen Sie einer neugierigen alten Frau, wenn sie eine Frage stellt?«, fragte sie.
»Ich weiß nicht, wen Sie mit ›alt‹ meinen«, antwortete Bast lächelnd, »aber bitte.«
Mrs Walsh überging die Bemerkung. »Woher kommen Sie, meine Liebe? Ich meine: Jacob hat zuletzt Kairo angelaufen, wenn ich richtig informiert bin, aber Sie sehen nicht aus wie eine …«
»… Ägypterin?« Bast lächelte unerschütterlich weiter. »Weil ich schwarz bin.« Bast lachte, aber Mrs Walsh nickte nur und schüttelte gleich darauf den Kopf.
»Ja. Nein … ich meine: Ja, Sie … sind schwarz, aber Sie sehen irgendwie nicht so aus wie …« Sie brach ab – nun doch sichtlich verlegen – und wusste für den Moment nicht mehr, wohin mit ihrem Blick.
»… wie eine Negerin?«, half Bast aus. »Breite Nüstern, dicke Lippen und einen goldenen Ring durch die Nase?« Sie schüttelte mit einem leisen Lachen den Kopf. »Stimmt. Ich bin Nubierin.«
»Aha«, sagte Mrs Walsh. Es klang genau wie »nie gehört«.
»Unsere Vorfahren haben nilaufwärts gelebt, aber das ist schon lange her. Zur Zeit der Pharaonen. Seither gehören wir offiziell zu den Ägyptern.«
»Aha«, sagte Mrs Walsh noch einmal.
»Jedenfalls haben Sie recht«, fuhr Bast fort. »Nubier sehen nicht aus wie Schwarzafrikaner, sondern eher wie Europäer. Nur dass sie schwarz sind. Was sie übrigens auch von den meisten zentralafrikanischen Völkern unterscheidet.«
»Wieso?«
»Sehen Sie mich an, und Sie wissen die Antwort«, sagte sie. »Die meisten Schwarzen sind nicht schwarz, sondern dunkelbraun.«
» Sie sind schwarz«, beharrte Mrs Walsh. Inzwischen war nicht mehr zu übersehen, wie unangenehm ihr das Thema geworden war. Wahrscheinlich bedauerte sie längst, es überhaupt angesprochen zu haben.
»Ich bin ja auch eine Nubierin«, antwortete Bast lächelnd. Sie nippte an ihrem Tee. Er war brühheiß und schmeckte köstlich. Mrs Walsh hatte irgendein Gewürz hineingegeben, das sie nicht genau erkannte, dem Getränk aber einen ganz wunderbaren Beigeschmack verlieh. »Ich kenne mich in dieser Hinsicht nicht so aus, wie ich es vielleicht sollte, muss ich gestehen. Aber es ist so, dass mein Volk zwar schwarze Haut, aber eindeutig europäische Wurzeln zu haben scheint. Sie sind nicht die Erste, die mit … sagen wir, Verwunderung darauf reagiert.«
Mrs Walsh nickte ein bisschen nervös
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