Anubis 02 - Horus
dem Hintergrund einer von schäbigen Backsteingebäuden gesäumten Straße zeigte, bar jeder Farbe und mit umgedrehten Schwarz- und Weißtönen. Eine Negativplatte, wie sie Photographen in ihren Kameras benutzten. Bast erkannte sogar die Szenerie, die in dem beschichteten Glas eingefangen war: Es war die Nacht in Whitechapel, in der sie Abberline zum ersten Mal begegnet war, und ausgelöst durch den Anblick erinnerte sie sich plötzlich wieder an den grellen Blitz, der sie erst auf die Szene aufmerksam gemacht hatte. Das Bild zeigte Liz’ Leichnam, aber auch die zusammengelaufene Menge aus Neugierigen und Gaffern, die ihr Möglichstes getan hatten, um Abberline und seinen Männern die Arbeit zu erschweren. Und sie selbst, eine dunkle, in einen schwarzen Kapuzenmantel gehüllte Gestalt, die alle Umstehenden um eine gute Haupteslänge überragte. Und sie konnte sich nicht einmal ansatzweise erinnern, wie diese Photoplatte in ihren Besitz gekommen war, geschweige denn in ihren Koffer.
Bast hob die Schultern und wollte ihren sonderbaren Fund wieder zurücklegen, doch dann fuhr sie heftig zusammen, und ihre Finger schlossen sich so fest um die Photoplatte, dass das dünne Glas hörbar knirschte.
Auf der Photoplatte war nicht sie zu sehen. Sie konnte es gar nicht sein, denn sie war Dutzende von Schritten entfernt gewesen, und überhaupt erst durch das grelle Blitzlicht auf das Geschehen aufmerksam geworden. Und dennoch …
Die Gestalt sah aus wie sie. Sie war groß – über sechs Fuß –, vollkommen in Schwarz gekleidet und trug einen Kapuzenmantel, unter dem ihr Gesicht völlig im Schatten blieb. Trotzdem konnte man irgendwie die weiblichen Formen unter dem fließenden schwarzen Stoff erahnen, und wenn man ganz genau hinsah – Bast hielt die Photoplatte höher gegen das Licht und kniff die Augen zusammen –, dann erahnte man unter der weit nach vorne gezogenen Kapuze eine ungebändigte dunkle Haarpracht, die sie spätestens seit ihrer Ankunft in diesem Land nicht mehr hatte. Auf dem Bild war nicht sie zu erkennen, sondern jemand, der ihr ähnelte wie eine Schwester. Und es auch war.
Isis.
Aber Isis war an diesem Abend nicht dabei gewesen. Jedenfalls nicht in ihrer wirklichen Gestalt.
Bast ließ die Photoplatte sinken und legte nachdenklich die Stirn in Falten.
Wie war das möglich? Isis war nicht da gewesen, aber auf dieser Photoplatte war sie ganz eindeutig zu sehen, und zwar in ihrer wirklichen Gestalt, die außer ihr vermutlich niemand auf diesem ganzen Kontinent kannte.
Und ganz plötzlich hatte sie Angst.
Hinter ihr wurden Schritte laut, und Bast ließ die Photoplatte fast hastig sinken und verbarg sie unter einem ihrer Kleider, bevor sie sich herumdrehte und Cindys Blick begegnete.
»Ich habe nichts rausgenommen«, sagte das Mädchen. »Es ist alles noch da.«
»Das … weiß ich«, sagte Bast hastig. »Ich … habe nicht deswegen nachgesehen.«
»Ach«, antwortete Cindy böse. »Weshalb dann?«
»Das geht dich nichts an«, versetzte Bast ärgerlich. Sie schlug den Koffer mit einem Knall zu, besann sich dann eines Besseren und öffnete ihn noch einmal, um die Photoplatte herauszunehmen und unter ihren Mantel zu schieben. »Ich brauchte noch ein paar Hexenkräuter. Du weißt schon – Krötenschenkel und Spinnenbeine und so ein Zeug. Was man eben für einen anständigen Fluch so braucht.«
»Ein Schwert?«
Bast sah an sich hinab. Ihr Mantel war nicht ganz geschlossen, und Cindy konnte das Schwert sehen, das sie unter ihren Gürtel geschoben hatte.
»Das gehört zu der Kriegerin in mir«, sagte sie. »Du bringst da was durcheinander.« Sie schloss ihren Mantel und – zum zweiten Mal – den Koffer. »Ich bin in ein paar Stunden zurück«, sagte sie. »Wenn du dann noch hier bist, reden wir. Und wenn nicht, ist es auch gut.«
Und in diesem Moment meinte sie das vollkommen ernst.
Den Polizeibeamten zu übertölpeln, den Abberline so unauffällig vor ihrer Tür zurückgelassen hatte, war geradezu beleidigend einfach gewesen. Bast hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, auf ihre besonderen Kräfte zurückzugreifen, sondern hatte das Haus schlichtweg durch den Hinterausgang verlassen und war über die Mauer in einen der benachbarten Gärten gestiegen, um in die Parallelstraße zu gelangen.
Als deutlich schwieriger hatte es sich dann schon erwiesen, zu ihrem Ziel zu gelangen. Whitechapel zu finden erwies sich als nicht allzu schwierig – sie hatte es immerhin schon einmal zu Fuß und sogar im
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