Anubis 02 - Horus
dunkler und auf eine Art gemalt, die einem das Atmen schwer werden ließ, wenn man zu lange hinsah. Die Dummköpfe, die dieses Relief gestohlen und hierhergebracht hatten, hatten damit begonnen, sie in helleren und klareren Farben zu restaurieren, weil sie offensichtlich dem Irrtum erlegen waren, die Zeit hätte diesem Teil des Bildes aus irgendeinem Grund besonders heftig zugesetzt. Woher sollten sie auch wissen, dass dieser Effekt nicht nur beabsichtigt, sondern ganz besonders realistisch war?
»Das ist …«, um ein Haar wäre ihr herausgerutscht: meine, » … Bastets Schwester«, antwortete sie. »Sachmet.«
»Sie sieht irgendwie … unheimlich aus«, sagte Mrs Walsh. »Nicht wie jemand, den ich kennen lernen möchte.«
Gegen ihren Willen musste Bast lächeln. Man konnte gegen Mrs Walsh sagen, was man wollte, sie war auf jeden Fall eine sehr scharfsichtige alte Frau. »Das möchten Sie auch nicht«, bestätigte sie mit einem flüchtigen Lächeln. »Es ist nur eine alte Legende. Bastet war eine sehr sanftmütige Göttin, sagt man. So friedliebend und sanft, dass in ihrer Seele kein Platz mehr für Zorn und Gewalt war. Aber es liegt nun einmal in der Natur des Menschen, beides in sich zu tragen, und so blieb es nicht aus, dass eines Tages Sachmet erschien, ihr dunkles Ich. Sie verkörperte alles, was Bastet nicht war.«
»Des Menschen? Waren sie denn keine Götter?«
»Vielleicht ist der Unterschied nicht so groß, wie viele meinen«, antwortete Bast, immer noch lächelnd. »Bastet jedenfalls, so sagt die Legende, war so voller Liebe zu den Menschen und so gütig und sanft, dass sie Sachmet erschaffen musste, um dem dunklen Teil ihrer Seele einen Körper zu verleihen. Seither kämpfen beide Seiten um die Vorherrschaft.«
»Wäre es doch nur auch in Wahrheit so einfach«, meinte Mrs Walsh mit einem leisen Seufzen und als wäre sie es in diesem Moment, die Basts Gedanken las. »Diese Welt wäre ein besserer Ort, wenn wir allem Schlechten in uns einen eigenen Körper geben könnten, nicht wahr?«
»Aber vielleicht würden wir dadurch genau das verlieren, worum wir zu kämpfen glauben«, antwortete Bast.
Mrs Walsh dachte einen Moment sichtlich über diesen Gedanken nach und hob schließlich erneut die Schultern. »Ein interessanter Gedanke«, sagte sie. »Vielleicht sollten wir ihn ein andermal aufgreifen und vertiefen … aber im Moment ist leider nicht der richtige Zeitpunkt dafür, fürchte ich.« Sie deutete zu Renouf hin. »Der gute Professor wartet sicher schon auf uns.«
Sie hatte recht, dachte Bast, und das nicht nur, was Renouf anging. Ohne einen konkreten Grund dafür angeben zu können, hatte sie plötzlich das sehr sichere Gefühl, dass es besser war, sich auf dieses Gespräch mit Mrs Walsh gar nicht einzulassen. Sie nickte nur, wandte sich um und beeilte sich, zu Renouf hinzugehen.
Der Direktor war vor einer schmalen Seitentür stehen geblieben, die so geschickt in die Wandvertäfelung eingelassen war, dass sie selbst wahrscheinlich daran vorbeigelaufen wäre, ohne sie auch nur zu bemerken. Während er einen kompliziert aussehenden Schlüssel aus der Jackentasche zog und drei Anläufe brauchte, um ihn ins Schloss zu nesteln und herumzudrehen, maß er sie erneut mit einem jener sonderbar besorgten Blicke, sah aber sofort weg, als er begriff, dass sie ihn bemerkte.
»Kommen Sie, meine Damen«, sagte er. »Aber geben Sie auf Ihre Schritte acht. Gleich hinter der Tür ist eine kleine Stufe.« Bast musste sich bücken, um durch die Tür zu treten, und Renouf hatte vergessen zu erwähnen, dass die Türschwelle die eigentliche Stufe war; ihr Schritt fiel deutlich größer aus als geplant, und sie musste einen hastigen zweiten Schritt machen und die Arme ausstrecken, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Renouf trat hinter ihr durch die Tür und streckte Mrs Walsh die Hand entgegen, um sie vor einem ähnlichen Missgeschick zu bewahren. Sein Gesicht blieb vollkommen unbewegt.
»War das Ihre Revanche für gerade, Professor Renouf?«, fragte sie.
»Aber ich bitte Sie, gnädige Frau!«, antwortete Renouf mit gespielter Empörung. »Wofür halten Sie mich?« Aber seine Augen funkelten, während er das sagte, und Bast verzichtete vorsichtshalber darauf, irgendetwas zu antworten. Sie wartete, bis Renouf die Tür hinter Mrs Walsh geschlossen hatte und sah ihn mit wachsender Ungeduld an. Renouf machte eine Kopfbewegung nach links und ging los, und Bast sah sich neugierig um. Der Gang, in dem sie sich
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