Anubis 02 - Horus
aufgeschrien.
Sie spürte … nichts. Sie hörte und sah Renouf und Mrs Walsh, vernahm das leise Murmeln der anderen Museumsbesucher und das gedämpfte Geräusch ihrer vorsichtigen Schritte und, wenn sie sich mit aller Macht konzentrierte, sogar ein leises, regelmäßiges Hämmern oder Klopfen, das aus einem anderen Raum herüberdrang, aber das war alles. All ihre anderen Sinne, die sie über so lange Zeit zu einer der wenigen Sehenden in einer Welt der Blinden gemacht hatten, waren plötzlich nicht mehr da. Selbst die gestaltlose Furcht, die die ganze Zeit über beharrlich am Rande ihres Bewusstseins gekratzt hatte, war plötzlich verschwunden. Von einer Sekunde auf die andere war es, als wäre sie all ihrer Sinne beraubt worden. Sie fühlte sich einsam und unendlich verloren, taub und blind zugleich. Ihr Herz begann zu hämmern.
»Miss Bast?«, fragte Mrs Walsh. Sie klang alarmiert, besorgt. »Stimmt etwas nicht?«
»Nein«, antwortete Bast hastig, »Ich meine … nein. Keine Sorge. Es ist alles in Ordnung.« Was für ein Unsinn. Hier stimmte etwas sogar ganz und gar nicht, aber nicht mit diesem Gebäude oder den ausgestellten und geraubten Kunstschätzen, sondern mit ihr. Es waren nicht ihre Sinne, die sie im Stich ließen – ihre Kraft erlosch, so einfach war das. Was sie erlebte, war das Gegenstück zu einem Schwächeanfall bei einem Verhungernden. Sie brauchte Nahrung. Bald »Ganz sicher?«, beharrte Mrs Walsh.
Sie schwieg.
So schnell die Schwärze sie überkommen hatte, so rasch und lautlos meldeten sich ihre Sinne wieder zurück, und obwohl sie sie nur für wenige Augenblicke im Stich gelassen hatten, taten sie es mit so schneidender Schärfe, dass Bast einen hastigen Schritt zur Seite machen musste, um nicht zu deutlich zu schwanken.
»Ganz sicher?«, fragte Mrs Walsh noch einmal.
»Wenn es Ihnen heute nicht passt, kann ich gerne einen anderen Termin für Sie arrangieren«, schlug Renouf vor. Irrte sie sich, oder sah auch er sie plötzlich besorgt an?
»Nein, das wird nicht nötig sein«, sagte sie rasch. »Wenn wir schon einmal hier sind, wäre es doch dumm, den Weg noch einmal zu machen.«
Renouf sah ungefähr so überzeugt aus wie Mrs Walsh, aber er war zumindest höflich genug, nicht noch einmal zu fragen, sondern machte nur eine einladende Handbewegung. »Dann folgen Sie mir, meine Damen.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte er sich herum und ging gerade schnell genug voraus, dass es Mrs Walsh alle Mühe kosten musste, mit ihm Schritt zu halten. Bast mochte sich täuschen – weder an seinem freundlichen Lächeln noch an seiner Zuvorkommenheit hatte sich auch nur eine Winzigkeit geändert, seit Mrs Walsh aufgetaucht war –, aber sie hatte das Gefühl, dass er nicht unbedingt begeistert von deren Anwesenheit war. Konnte es sein, dass er …?
Nein. Obwohl sich Bast nicht einmal gestattete, die Frage ganz zu Ende zu denken, beantwortete sie sie doch zugleich im selben Moment. Renouf gefiel sich vielleicht darin, den Charmeur zu spielen, und sicher schmeichelte es ihm, dass sie dieses kleine Spielchen mitspielte, aber das war auch schon alles. Sie musste seine Gedanken nicht lesen, um zu wissen, dass er im Grunde ganz genau das war, wonach er auch auf den ersten Blick aussah: ein harmloser Gelehrter mit den perfekten Manieren eines Gentlemans. Und außerdem schätzte sie ihn realistisch genug ein, um zu begreifen, dass sie nicht nur einen guten Kopf größer war als er, sondern auch gute dreißig Pfund schwerer und in ungleich besserer Verfassung. Sie hätte nicht einmal sein müssen, was sie war, um mühelos mit ihm fertig zu werden.
Während sie gleichzeitig versuchte, zu Renouf aufzuschließen und den Abstand zu Mrs Walsh nicht zu groß werden zu lassen – mit dem Ergebnis natürlich, dass keines von beidem wirklich klappte –, warf sie einen flüchtigen Blick über die Schulter zu Henry zurück. Der grauhaarige Museumswächter blickte ihnen genauso missmutig nach, wie sie es nach Mrs Walshs Worten auch erwartet hatte, zugleich aber auch so misstrauisch und aufmerksam, wie man es von einem Beamten im Dienste Ihrer Majestät erwarten konnte … aber er runzelte zugleich auch irgendwie verwirrt die Stirn, und Bast hatte das sonderbar sichere Gefühl, dass dieses Stirnrunzeln nicht nur Mrs Walsh und ihr galt, sondern in mindestens ebensolchen Maße auch Renouf. Anscheinend war das Verhältnis des Direktors zum Personal nicht das Beste.
Sie erreichten das jenseitige Ende der Halle und
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