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Anubis - Roman

Titel: Anubis - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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herumzufahren. Sein Herz pochte ein bisschen schneller, und er musste sich beherrschen, um nicht mit der gleichen unziemlichen Hast zur Tür zu springen und sie aufzureißen; als sei er kein ordentlicher Professor, sondern ein Zehnjähriger, der es am Weihnachtsmorgen nicht mehr aushalten konnte, ins Wohnzimmer zu gelangen, um nachzusehen, was Santa Claus am Kaminsims zurückgelassen hatte. Aber Weihnachten lag Wochen zurück und Mogens war keine zehn mehr, sondern der vierzig mittlerweile näher als der dreißig. Außerdem hielt er es für wenig angeraten, seinem Besuch zu zeigen, wie neugierig er auf das »berufliche Angebot« war, von dem in dem Telegramm die Rede gewesen war. So zwang er sich nicht nur mit einer bewussten Anstrengung zur Ruhe, sondern ließ noch einmal vier oder fünf Sekunden verstreichen, ehe er die Hand nach dem Türgriff ausstreckte und ihn herunterdrückte.
    Es fiel Mogens sehr schwer, seine Enttäuschung zu verbergen. Vor der Tür stand kein Fremder, sondern Miss Preussler – nennen Sie mich einfach Betty, das tun alle hier, hatte sie gleich am Abend seines Einzugs gesagt, aber Mogens hatte es niemals fertig gebracht, nicht einmal in Gedanken –, seine Zimmerwirtin, und statt der sorgsam zurechtgelegten Worte,die Mogens zur Begrüßung seines Gastes ersonnen hatte, entschlüpfte ihm nur ein überraschtes: »Oh?«
    Miss Preussler hob die rechte Hand, mit der sie gerade dazu angesetzt hatte, ein weiteres Mal an die Zimmertür zu klopfen, drohte ihm spielerisch mit dem Zeigefinger und schob sich – wie üblich, ohne ihn um Erlaubnis zu fragen – an ihm vorbei ins Zimmer. »Oh?«, fragte sie. »Ist das vielleicht eine Art, eine gute Freundin zu begrüßen, mein lieber Professor?«
    Mogens zog es vor, gar nicht darauf zu antworten. Es bereitete ihm schon normalerweise große Mühe, Miss Preusslers Aufdringlichkeiten zu ertragen – die sie offensichtlich für den angemessenen Ausdruck der Zuneigung hielt, die sie ihm gegenüber empfand –, aber heute fiel es ihm ganz besonders schwer.
    »Natürlich nicht«, antwortete er, hastig und ein bisschen ungeschickt. »Es ist nur so, dass …«
    »… Sie mich nicht erwartet haben, ich weiß«, unterbrach ihn Miss Preussler, während sie sich zu ihm umdrehte und dabei – wie Mogens keineswegs entging – einen raschen, prüfenden Blick durch das Zimmer schweifen ließ. Miss Preussler war der ordentlichste und sauberste Mensch, dem Mogens je begegnet war; und das, obwohl er selbst Sauberkeit über alles schätzte. Heute jedoch fand ihr kritischer Blick nicht das geringste Stäubchen, das vielleicht zu einem missbilligenden Stirnrunzeln Anlass gegeben hätte. Mogens hatte die vergangenen anderthalb Stunden damit zugebracht, sein Zimmer aufzuräumen und die betagte Einrichtung auf Hochglanz zu polieren – soweit die fünfzig Jahre alten Möbel, mit denen seine Unterkunft ausgestattet war, dies noch zuließen.
    »Sie erwarten Besuch, mein lieber Professor?«, fuhr sie fort, als sie auch nach einigen Sekunden keine Antwort bekam.
    »Ja«, antwortete Mogens. »Ein früherer Kollege hat sich überraschend angekündigt. Ich hätte Sie selbstverständlich informiert, aber die Nachricht kam wirklich sehr überraschend. Ich wollte Sie nicht unnötig belästigen. Sie haben ja auch so schon genug zu tun.«
    Normalerweise reichte ein solcher Hinweis auf die Arbeit, die es für Miss Preussler zweifellos bedeutete, eine Pension mit einem Dauergast und zwei weiteren, die meiste Zeit leer stehenden Zimmern zu betreiben und dabei Jagd auf jedes Stäubchen und jeden Schmutzpartikel zu machen, die den Frevel begingen, sich in ihr Refugium zu wagen, vollkommen aus, sie wieder gnädig zu stimmen. Heute jedoch nicht. Ganz im Gegenteil wirkte sie plötzlich ein bisschen verärgert – oder verletzt –, dann löste sich ihr Blick für einen Moment von seinem Gesicht und streifte das Telegramm, das zwar aufgeschlagen, aber mit der beschriebenen Seite nach unten auf dem Schreibtisch lag. Was Mogens in diesem kurzen Moment in ihren Augen las, machte ihm klar, dass sie den Inhalt des Telegramms nur zu gut kannte.
    Natürlich kannte sie ihn. Was hatte er erwartet? Wahrscheinlich hatte sie ihn gekannt, bevor er ihn zur Kenntnis genommen hatte. Thompson war ein kleiner Ort, in dem jeder jeden kannte und in dem nichts geschah, ohne sofort zu allgemeinem Wissensgut zu werden. Trotzdem ärgerte ihn die Erkenntnis so sehr, dass er sich für einen Moment mit aller Kraft

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