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Anubis - Roman

Titel: Anubis - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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zurück.
    »Das hat aber verdammt lange gedauert«, sagte er. Seine Stimme war ein heiseres, dünnes Fisteln, das kaum noch Ähnlichkeit mit der Stimme hatte, die Mogens kannte.
    »Was?«
    »Bis du es endlich über dich gebracht hast, mich mit meinem Titel anzureden.« Graves gluckste leise. »Sind wir jetzt richtig gute Freunde?«
    »Wieso, zum Teufel, lebst du immer noch?«, fragte Mogens. »Wie hast du es geschafft, zu entkommen?«
    »Das ›immer‹ nehme ich dir übel«, sagte Graves. Er hustete; ein trockener, qualvoller Laut, unter dem sich sein ganzer Körper schüttelte. Er brauchte fast eine halbe Minute, um wieder zu Atem zu kommen.
    »Wieso ich noch lebe?« Graves hob die Arme, sodass das Tuch herunterrutschte. Mogens spannte sich instinktiv, um sich gegen den schrecklichen Anblick zu wappnen – aber er war ganz anders, als er erwartet hatte. Er war schrecklich, doch statt der blutigen Stümpfe, die er erwartet hatte, sah er nur zwei glatte, weißliche Flächen, unter denen sich etwas zu bewegen schien; eine Bewegung wie von wimmelnden Maden oder Würmern, die ein Gefühl plötzlicher Übelkeit aus seinem Magen emporsteigen ließ. Hastig sah er weg.
    »Sagte ich dir nicht, dass ich nicht so leicht umzubringen bin?«, fragte Graves. Er lachte, diesmal ohne zu husten, drehte seine Armstümpfe vor dem Gesicht und betrachtete sie einen Moment lang mit nachdenklichem Gesicht. Miss Preussler gab ein würgendes Geräusch von sich und ließ sich rasch neben dem Mädchen in die Hocke sinken, und gewiss nicht durch Zufall so, dass sie Graves dabei nicht nur den Rücken zudrehte, sondern der jungen Frau auch zugleich den Blick auf Graves’ Armstümpfe verstellte.
    »Wir sind schon ein tolles Team, nicht wahr?«, kicherte Graves. »Hat Miss Preussler dir von San Francisco erzählt?«
    »Wir können nicht wissen, ob es wirklich San Francisco ist«, sagte Mogens.
    »O doch, das ist es«, antwortete Graves. »Wir haben ganze Arbeit geleistet. Aber mach dir nichts draus, Mogens. Dich trifft keine Schuld. Früher oder später musste das passieren. Wusstest du, dass die Stadt auf einem Erdbebengebiet erbaut wurde? Die Stadtverwaltung weiß das, aber man zieht es vor, dieses Wissen für sich zu behalten, zumal die Grundstückspreise seit Jahren in astronomische Höhen schnellen. Selbst schuld, wenn ihnen jetzt der Himmel auf den Kopf gefallen ist.«
    »Was sind Sie nur für ein Mensch!«, murmelte Miss Preussler.
    Graves warf ihrem Rücken einen verächtlichen Blick zu, verbiss sich jedoch jede Antwort und ließ zu Mogens’ Erleichterung endlich die Arme wieder sinken. Stattdessen wandte er sich wieder an Mogens. Der höhnische Ausdruck verschwand von seinem Gesicht und machte unendlicher Bitterkeit Platz. »Du willst wissen, wie ich entkommen bin, Mogens?« Er machte eine Kopfbewegung auf die beiden Frauen neben sich. »Wie wir alle entkommen sind? Sie wollten uns nicht, deshalb sind wir noch am Leben!«
    Miss Preussler drehte nun doch den Kopf und sah ihn gleichermaßen ungläubig wie erschrocken an, und auch das dunkelhaarige Mädchen blickte in seine Richtung. Für einen Moment, den Bruchteil einer Sekunde nur, und doch sollte Mogens ihn nie im Leben wirklich vergessen, kreuzten sich ihre Blicke, und was er in diesem unendlich kurzen und doch endlosen Moment in diesen Augen las, das erschütterte ihn bis auf den Grund seiner Seele. Da waren Angst und Entsetzen und eine abgrundtiefe Furcht, dass er es kaum ertrug, und all das hatte er erwartet, aber da war auch noch mehr. Für den Bruchteil einer Sekunde erblickte er in ihren Augen etwas Vertrautes , etwas, das er kannte und wonach er sich verzehrte wie nach nichts anderem auf der Welt.
    Dann war der Moment vorüber, der Blick des Mädchens wanderte weiter, und Graves fuhr mit leiser, bitterer Stimme fort: »Sie wollten uns nicht töten, Mogens, verstehst du?« Er lachte ganz leise, aber es konnte genauso gut auch ein Schluchzen sein. »Ich glaube, wir sind es nicht einmal wert, von ihnen getötet zu werden. Sie sind uns so überlegen, dass sie uns nicht einmal zur Kenntnis nehmen. Wir sind … weniger als Staub. Vielleicht existieren wir für sie nicht einmal!«
    »Immerhin haben wir sie besiegt«, antwortete Mogens schleppend. Es fiel ihm schwer, sich auf Graves’ Worte zu konzentrieren.
    »Besiegt?« Graves lachte schrill. »O nein, Mogens. Wir haben sie nicht besiegt . Niemand kann sie besiegen. Vielleicht haben wir sie darauf aufmerksam gemacht, dass es uns

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