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Apfeldiebe

Titel: Apfeldiebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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seine Erleichterung konnte man beinahe mit Händen fassen.
    » Dann spielen wir jetzt aber Fußball!«

4 Rufus

    Auf einem Hügel zwischen dem keine zweihundert Einwohner zählenden Wittlekofen und dem benachbarten doppelt so großen Wellendingen konnte man seit einem halben Jahr jeden Morgen einen völlig in Schwarz gekleideten Jungen beobachten. Er kam von Montag bis Freitag mit dem Schulranzen auf dem Rücken aus Wittlekofen herauf, manchmal mit einer Blume in der Hand, manchmal mit einem Blatt Papier, welches er dann auf der Anhöhe, direkt unter dem Funkmast, verbrannte. Von Montag bis Freitag hatte er es eilig, der Schulbus wartete nie, am Wochenende aber oder in den Ferien nahm er sich Zeit und wenn das Wetter mitspielte saß der Junge oft stundenlang unter dem Mast, vor sich die lose dahingestreuten Dächer seiner neuen Heimat, am Horizont schneebedeckte Alpengipfel.
    In diesen ersten großen Sommerferien hier im Süden des Schwarzwaldes verbrachte er oft ganze Tage auf seiner Anhöhe, allein mit sich und tausend Gedanken. Vater hatte eine Fahrt nach Südfrankreich vorgeschlagen, gestern erst diverse Ausflüge zum Bodensee, an den Rheinfall oder die Wasserfälle in Triberg, aber für Rufus gab es keinen einzigen Grund, diesen Platz hier zu verlassen, denn unter dem Funkmast fühlte er sich seiner Mutter so nah wie nirgends sonst auf der Welt. Selbst der abschließende Gang hinunter ins Dorf verkörperte für den Zwölfjährigen bereits eine Art Abschied und wenn er am Abend noch wach in seinem Bett lag, spürte er, wie Mutter an ihm zog, nach ihm rief, wie damals am Strand. Nicht immer konnte er diesem Rufen widerstehen, manchmal zog er sich daraufhin ganz leise an, kletterte aus dem Fenster und rannte zu ihr, so nahe wie es irgend ging und setzte sich unter den Mast. Dieser wirkte in Rufus’ Fantasie wie eine Antenne, eine Antenne, welche die Rufe der Mutter aufsammelte, bündelte und an den richtigen Empfänger zu ihren Füßen weiterleitete. Und umgekehrt fing dieser Mast Rufus’ Worte an seine Mutter auf und wenn der Junge auch nicht so richtig an einen Gott glauben mochte, so glaubte er doch, dass Mutter irgendwo da oben zwischen den Wolken und Sternen weiter existierte und von da aus die Gedanken ihres Sohnes lesen konnte. Es musste so sein, denn wenn nicht, welchen Sinn hätte dann noch dieses Leben?
    Mutter war kurz nachdem sie die alte Wohnung bei Hamburg weihnachtlich dekoriert hatte gestorben und bis heute wusste ihr Sohn nicht warum. Er vermutete zwar, dass Mutters Tod etwas mit dem Verlust ihres ältesten Sohnes zu tun hatte, mit Leon, dessen Augen Rufus niemals vergessen würde. Aber ganz sicher war er sich da nie. Ein Grund spielte jetzt aber auch keine Rolle mehr, weder für Leons Tod noch für den der Mutter – und, wusste Rufus, ganz bestimmt auch nicht für das eigene Weggehen. Irgendwann.
    Rufus glaubte sich heute zu erinnern, dass sie schon, während sie an diesem letzten Tag Räuchermännchen und Pyramiden auf Tischen und Fensterbänken verteilt hatte, viel länger als sonst vor den Fenstern erstarrt war und minutenlang hinüber zum zwischen Bäumen vorbeiziehenden Spiegel der Elbe geblickt hatte. Aber er konnte sich auch irren, so genau wusste man das schließlich nie, Rufus jedenfalls nicht. Im Nachhinein erinnerte man sich immer nur an Sachen, Gesten und Worte, die in dem Moment, in dem man sie entdeckte, bereits eine Bedeutung für einen selbst besessen hatten oder aber zurückblickend eine Bedeutung erhielten. Im ersten Fall übersah man vielleicht manches Detail und dessen Wahrheit, im zweiten war alles bereits so verschwommen, dass man die Erinnerung vermutlich eher selbst konstruierte denn sich tatsächlich erinnerte. Rufus hatte lernen müssen, dass man einem Kopf und dem, was in diesem vor sich ging, einfach nicht trauen konnte, niemals, schon gar nicht, wenn es sich bei diesem Kopf um einen kranken Kopf handelte, wie bei Mutter. Aber was bedeutete krank , was gesund ? Diese Frage beschäftigte ihn, seit die bis dahin wichtigste Person in seinem Leben das Haus verlassen und den Weg zurück nicht mehr gefunden hatte. Als dies im Dezember des vergangenen Jahres geschehen war, hatte Rufus am Küchentisch gesessen und seine Hausaufgaben erledigt. Vorher hatte er, was, so sagte es ihm jedenfalls seine Erinnerung, in diesen ersten Dezembertagen öfter vorgekommen war, eine Büchse Ravioli öffnen müssen und den Inhalt in der Mikrowelle erhitzt. Mutter hatte wieder nichts

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