Apfeldiebe
wohl Kasimir: Haare, die in der Sonne wie eine zu groß geratene Kastanie leuchteten – Kasi, der Einzige hier im Dorf, mit dem man ganz gut auskommen konnte. Er war zwar erst zehn, dafür aber doppelt so schlau wie der ganze Rest hier zusammen, was regelmäßig dazu führte, dass dieser Rest seinen Frust über diese ihm durchaus bewusste Tatsache an dem Jungen ausließ. Auch heute würde es so enden, wusste Rufus. Kasi wird weinen und der Rest darüber lachen und sich gut dabei fühlen. Seltsam kam Rufus nur vor, dass dieser Kasimir trotzdem regelmäßig die Nähe der anderen suchte, mit ihnen spielen, dazugehören wollte. Wahrscheinlich wusste auch er jedes Mal, wie der Tag für ihn enden würde. Ein einziges Mal, das musste so zwei Monate zurückliegen, hatte dieser Junge sich auch hier oben sehen lassen, gerade, als Rufus seiner Mutter einen Strauß Wiesenblumen unter den Mast gelegt hatte. Blumen gab es hier – so etwas hatte Rufus nie zuvor irgendwo gesehen! Ganze Wiesen sahen im Mai und Anfang Juni wie abstrakte Tupfengemälde aus, ein betörendes Durcheinander aus Farbe, Wärme und Summen, welches der Choreografie des Windes folgend die Köpfe bewegte – ein Wellenmeer aus Blüten und Blättern und Halmen, bevor die Bauern dieser jeden Betrachter verwirrenden Schönheit ein Ende bereiteten. Lila, rot, gelb und weiß – alle Farben verschwanden in dicken Ballen, welche anschließend wie Riesengolfbälle auf millimeterkurzen Stoppeln ihren Abtransport erwarteten. Mutter hatte Blumen über alles geliebt und in den Tagen des Wenigerkrankseins hatte es überall im Haus nach ihnen geduftet.
Kasimir hatte an diesem Tag vor zwei Monaten plötzlich neben Rufus gestanden und ihn gefragt, was er hier tue, Rufus ihm daraufhin gesagt, dass ihn das nichts angehe und den Eindringling weggeschickt. Seither hatte niemand mehr gestört und Kasi das Thema auch nie wieder angesprochen, auch die Großen nicht. Diese hatten zwar keine wirkliche Angst vor dem schwarzen Heini , wie sie ihn unter sich nannten, wussten aber aus diversen Erfahrungen, dass Rufus auf Fragen nach seinem Platz unter dem Mast oder nach seiner Mutter umgehend reagierte, meist mit einem Tritt oder einem Schlag in die Magengrube. Also sprachen sie dieses Thema nur unter sich an, was zu seltsamen Theorien führte. Momentan hatten sie sich darauf geeinigt, dass einer wie dieser Schwarze gar keine richtige Mutter haben könne. Viel wahrscheinlicher sei, dass er das Ergebnis eines Genexperimentes sein musste, im Reagenzglas gezeugt. Und unter dem Funkmast musste er nur sitzen, weil all die Strahlen und Wellen dort oben Rufus’ krankes Hirn am Leben erhielten. Alex hatte prophezeit, dass, sollte jemand den Mast einmal abschalten, Rufus sofort wegziehen oder aber mausetot umfallen werde. Bis heute aber funktionierte alles einwandfrei, somit fehlte also noch der zweifelsfreie Beweis für Alex’ Theorie.
Die drei Kinder hatten den Platz erreicht. Kasis Kastanienkopf blieb abseits, während Alex jemand, vielleicht war es seine kleine Schwester, in die Höhe hob. Kasi wird heute Abend weinen.
» Du meinst, ich soll auch da hingehen?« Rufus bog den Kopf nach hinten und sah zur Spitze des Mastes, als hinge da ein Zettel mit der Antwort auf seine Frage. Aber die Antwort hörte er in seinem Kopf. Oder glaubte er nur sie zu hören? Die Antwort lautete wie immer so, dass sie in keiner Weise mit Rufus’ bereits vorhandenen Wünschen und Gedanken kollidierte. Konnte Mutter die Gedanken ihres Sohnes lesen und antwortete aus diesem Grund immer in seinem Sinne? Oder bildete er sich ihre Antworten nur ein und ihre Stimme in seinem Kopf war nichts anderes als ein Hirngespinst? Rufus wusste es nicht und er wollte es auch nicht herausfinden. So wie es war, fand er es schön, denn Mutter war immer in seiner Nähe, heute viel mehr als zu der Zeit, in der sie noch gelebt hatte. Und viel mehr als damals hörte er heute auf das, was sie ihm riet.
» Also gut.«
5 Der Schwur
» Los! Spiel ab, Mann!« Kasimir aber verfolgte andere Pläne. Er rannte, ohne weiter auf seinen Mitspieler zu achten, Richtung Tor und dribbelte dabei einen unsichtbaren Gegner aus. Er wollte es den anderen beweisen, ihnen zeigen, dass auch er Fußball spielen konnte, dass er Ausdauer und Kraft besaß. Was konnte er denn dafür, dass für ihn in der Schule alles ein wenig besser lief als für die anderen? Was konnte er für seinen Namen und die Brille? Und warum zogen sie ihn immer an den schulterlangen
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