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Apfeldiebe

Titel: Apfeldiebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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Hamburg hatte Rufus nie etwas von ihr gehört, in Wittlekofen aber änderte sich dies radikal. Schon als er in dieser letzten Januarwoche aus dem Auto gestiegen war, hatte er sie gehört, zwar noch recht leise und fern, aber er hatte sie gehört. Aber nur er, Vater nicht. Am Abend dieses ersten Tages war Rufus bereits diesem Locken gefolgt, in die Nacht hinausgegangen und losgelaufen, umgekehrt, wenn Mutters Stimme leiser wurde, hatte Kurven geschlagen, Kreise im Schnee hinterlassen, bis er irgendwann am Fuß des Sendemastes angekommen war und wusste, dass dies hier der einzige Ort auf der ganzen Welt war, an dem er jemals wieder ein Zuhause haben würde. Er hatte seine Mutter wiedergefunden.

    Rufus lehnte mit dem Rücken am Sendemast und unterhielt sich mit seiner Mutter. Jeden Tag wünschte er ihr Guten Morgen, jeden Abend Gute Nacht und wenn er, wie jetzt in den Ferien, reichlich Zeit übrig hatte, erzählte er ihr von dem was er sah, wie sich das neue Leben hier anfühlte, las ihr etwas vor. Vater hatte eine Stelle in Waldshut gefunden, zwar deutlich schlechter bezahlt als der Job in Hamburg, aber er schien damit zufrieden, vor allem als er gesehen hatte, wie sehr sein Sohn diesen Ort hier liebte. Und Rufus liebte Wittlekofen, vor allem aber den Berg im Rücken des Dorfes, tatsächlich.
    » Was ich mittags gegessen habe?« Rufus griff in seinen neben ihm liegenden Rucksack. Seine Hand fand die Dose, er nahm sie heraus und sah nach. »Zwei Brote.« Da noch eines in der Dose lag und er sich jeden Morgen drei von ihnen einpackte, musste er also zwei gegessen haben. Er legte die Dose zurück. Rufus sah nach dem Schatten des Sendemastes, welcher bei Sonnenschein wie der Zeiger einer Sonnenuhr im Tagesverlauf über die Wiese und den Jungen zu seinen Füßen wanderte, und wusste fast auf die Minute genau, wie spät es sein musste. In zwei Stunden wird Vater kommen und versuchen, fröhlich zu sein und Rufus wird ihm zuliebe ebenfalls fröhlich sein und über seine Scherze lachen, obwohl es doch eigentlich nichts zu lachen gab. Wäre Mutter noch hier, ja dann … Manchmal, in den Zeitspannen, in denen die Medikamente besser gewirkt oder es den Geistern in Mutters Kopf eben einfach so gefallen hatte, schien es beinahe, als gäbe es die Krankheit gar nicht; es waren schöne, wenn auch viel zu kurze Tage, die Tage, in denen es bei seiner Rückkehr von der Schule im Haus nach Gekochtem gerochen, die Küche geblitzt hatte, als habe soeben erst ein ganzes Bataillon Heinzelmännchen sie verlassen und Mutter schon an der Tür auf Rufus gewartet und ihn in die Arme genommen hatte. Wie eine richtige Mutter hatte sie sich nach seinem Tag erkundigt, zugehört, getröstet, wenn es etwas zu trösten gegeben hatte. Nur bei seinen Schularbeiten hatte sie ihm nie helfen können. Sie hatte nur gelacht, wenn Rufus sie darum gebeten hatte und gefragt, ob er das Schuljahr etwa wiederholen wolle. An dieses Lachen erinnerte er sich oft, Leons Lachen aber wollte und wollte ihm nicht mehr einfallen, es war fast, als habe der große Bruder nie gelacht.
    Rufus beschattete die Augen mit einer Hand. Wie schön es sein könnte, wären alle noch zusammen. Eine richtige Familie, in der es wirklich etwas zu lachen gab.
    Rechts von dem Jungen, im Westen, wo zwischen Dorf und Waldrand Streuobstwiesen und ein kleiner Sportplatz lagen, sah Rufus zwei Jungen spielen, einer stand im Tor, der andere dribbelte um imaginäre Gegner herum und brach nach einem Treffer in Jubelschreie aus, die, etwas verspätet zwar, bis hierher zu hören waren. Es sah lustig aus, wie der Junge – Rufus tippte auf Alex, den Sitzenbleiber – stumm die Arme in die Höhe riss und einen Augenblick später, wenn er sich vielleicht gerade nach dem Ball bückte oder am Kopf kratzte, Jubel an Rufus’ Ohr drang. Alles kam eben auf die Perspektive an und auf die Entfernung, alles im Leben. Rufus Gedanken kreisten immer wieder auch um dieses Thema, vor allem seit Mutters Tod. Er wünschte sich, er könnte dieses Leben verstehen, das Warum, das Wohin, aber keiner konnte es erklären, nicht einmal Mutter, obwohl die doch jetzt die Schlaueste von allen sein musste. Vater versuchte es gelegentlich, aber wie soll jemand etwas erklären, das er selbst nicht verstand? Meist endete es damit, dass er seinen Sohn auf später vertröstete, jetzt sei er noch zu klein. Klein, was bedeutet klein , was groß ?
    Vom Dorf her näherten sich drei weitere Kinder dem sogenannten Fußballplatz, eines davon war

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