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Apfeldiebe

Titel: Apfeldiebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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gekocht, nur auf ihrem Stuhl gesessen, noch im Morgenmantel. Sie hatte den Begrüßungskuss ihres Sohnes ebenso ignoriert wie den Teller, den er ihr hinstellte und die sieben oder acht Teigtaschen, die er ihr zu essen gab. Sie hatte ihn einfach nicht wahrgenommen und Rufus – Angst? Selbstschutz? Hilflosigkeit? – hatte von seinem Tag in der Schule erzählt, gegessen, den Tisch abgeräumt und zuletzt mit seinen Hausaufgaben begonnen.
    Und plötzlich hatte sie sich erhoben und war aus der Küche gegangen, Rufus dachte, ins Bad oder ins Bett, aber seine Mutter hatte zu diesem Zeitpunkt bereits andere Pläne gehabt. Vielleicht hatte sie jemand gerufen, so wie sie heute jeden Tag nach ihrem Sohn rief. Wer wusste so etwas schon. Hausaufgaben sind wichtig, alle Aufgaben sind wichtig, verhindern sie doch das Denken und das Zuhören. Rufus tauchte in seine Aufgaben, Mutter wird im Bad sein. Bis er sie rufen hörte, seinen Namen, von draußen.
    Vom Küchenfenster aus hatte er sie im Morgenmantel am Elbestrand stehen sehen, auf einem vier, fünf Meter breiten Streifen aus feinem Kies und Sand, ein Platz, den kein Fremder kannte und der einzig und allein Rufus und seinen Eltern gehörte. Im Sommer hatte er oft ganze Nachmittage und Abende hier verbracht, gebadet, kleine Schiffe gebastelt und treiben lassen und nachts manchmal an besonderen Tagen zusammen mit Vater Teelichter auf Brettchen gestellt und vom Fluss ins nahe Hamburg und vielleicht noch darüber hinaus geschickt. Mutter starrte zum Küchenfenster herüber, rief den Namen ihres Sohnes und winkte. Rufus wusste damals ganz genau, was dies jetzt für ein Augenblick war und wie dieser Augenblick alles verändern sollte. Als ob es sich nicht gehört hätte, diesen Augenblick durch eigene Worte und Bewegungen zu zerstören, hatte er am Fenster gestanden, reglos, sprachlos, und zugesehen, wie Mutter ihm einen Handkuss zugeworfen, sich umgedreht und den Morgenmantel ausgezogen hatte. Unter diesem Mantel hatte man später auch ihre Hausschuhe gefunden, sie selbst nie.
    Möchtest du noch hier bleiben, weiter hier am Fluss leben? , hatte Vater gefragt. Die Suche hatte sich zwei Tage hingezogen und nur einen weiteren Tag nach ihrem Abbruch hatten auch Rufus’ Großeltern das Haus verlassen. Rufus hatte nicht lange überlegen müssen und mit dem Kopf geschüttelt. Damals trug er schon schwarze Kleider, hatte alles was Farbe besaß aus seinem Kleiderschrank verbannt, in Säcke gestopft und diese Säcke in die Garage getragen. Was aus ihnen geworden war – keine Ahnung, Rufus interessierte es nicht. Er hatte sich die dunkelblonden Haare schwarz gefärbt und während andere in seinem Alter nach dem Zähneputzen etwas Gel auf dem Kopf verteilten oder erste Schminkübungen vor dem Spiegel vollführten, kämmte er sich jeden Morgen schwarzen Schaumfestiger in die Haare. Das gehörte inzwischen zu ihm wie der Gang zur Toilette, wie Zähneputzen und Duschen. Vater ließ ihn gewähren. Vielleicht hoffte er, dass sein Sohn auf diesem Weg den Verlust der Mutter bewältigen konnte.
    Rufus hatte sich auf einer überdimensionalen Karte von Deutschland ein neues Zuhause aussuchen dürfen. Bis heute fragte er sich, wieso Vater das erlaubt hatte, schließlich ließen sie so nicht nur Mutter und das jetzt so unwirkliche Haus, in dem alles an sie erinnerte, zurück, sondern auch Vaters Arbeitsstelle in Hamburg, Freunde und Bekannte. Vielleicht, weil er in diesen Tagen nach Mutters Tod selbst nichts entscheiden konnte oder wollte, vermutete Rufus heute. Instinktiv hatte der Junge damals sofort von ganz oben – Hamburg – nach ganz unten gesehen. Dort stand Schwarzwald , entfernt glaubte er sich zu erinnern, dieses Wort einmal im Unterricht gehört zu haben. Wie es dort unten, ganz im Süden aussah – davon hatte er damals keine Ahnung, wichtig schien ihm einzig und allein der Name. Sein Finger wanderte ganz in den Süden dieses Waldes, dessen Namen so gut zu seiner Trauer passte und Vater hatte nur genickt. Drei Wochen später hatten sie ihr Haus verschlossen und den Schlüssel und alles, was dieser Schlüssel wegsperrte, einem Makler übergeben.
    Auf der Fahrt durch die Republik hatte Rufus immer wieder an eine Rückkehr seiner Mutter denken müssen. Jedes Mal, wenn er Wasser gesehen hatte, sah er sie aus dem Wasser kommen und zum Haus gehen. Aber niemand öffnete ihr. War es richtig, einfach so zu gehen, ohne Mutter gefunden und beerdigt zu haben?
    Ja, es war richtig, das wusste er heute. In

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