Apfeldiebe
Ehren stand da, mehr nicht. Und Max hielt sie in Ehren, so in Ehren, dass er das hässliche Etwas, das noch nicht einmal eine Batterie besaß, sondern von Hand aufgezogen und gestellt werden musste, in der hintersten Ecke seines Schreibtischs verstaute – auf Nimmerwiedersehen. Jetzt aber erinnerte Max sich an das einzig Gute dieser Uhr: sie besaß fluoreszierende Zeiger und ebenso grün leuchtende Punkte, exakt da, wo sich Drei, Sechs, Neun und Zwölf befanden. Hätte er sie jetzt am Handgelenk, wüsste er wie spät es war und das Ticken könnte vielleicht das Pulsieren und Rauschen aus Max’ Ohren vertreiben.
Nach reglosen zwanzig Minuten, die Max wie drei Stunden vorkamen, unternahm er einen erneuten Anlauf, seine Rückenlage zu verlassen. Die Schulterblätter schmerzten, ebenso der Po und überhaupt alles an ihm. Diesmal aber nahm er sich etwas mehr Zeit und richtete nur ganz langsam Oberkörper und damit auch Kopf auf. Zwar polterte es immer noch in seinem Kopf, aber lange nicht mehr so wild wie beim ersten Anlauf.
» Timi?« Wieder keine Antwort. Aber gut, wenn Timi einmal schlief, dann schlief er, dann musste man schon mit einer Trompete neben seinem Bett stehen, um ihn wach zu bekommen, vor allem mitten in der Nacht. Vielleicht lag die Schlägerei mit Alex ja doch nicht, wie von Max ursprünglich angenommen, schon eine ganze Nacht zurück, wer wusste das schon? Ohne Uhr und ohne jede andere Orientierungshilfe wie Sonne oder Dämmerung konnte man sich hier einzig und allein auf die eigene, die innere Uhr verlassen. Vielleicht hatte Alex’ Schlag diese ja verstellt, möglich schien alles.
Max rutschte Zentimeter um Zentimeter nach hinten, er wusste, egal in welche Richtung er sich bewegte, nach spätestens drei Metern musste er gegen eine Wand stoßen. Als dies eintrat, lehnte er sich dagegen und lauschte, aber nichts. Kein Atmen, kein Zähneknirschen, kein geflüsterter Albtraum, es war, als sei Timi gar nicht hier. Diese Möglichkeit aber schloss Max kategorisch aus. Er und Timi, das war wie Asterix und Obelix oder wie, wie … Micky und Maus. Max dachte kurz über diesen letzten Vergleich nach, aber ihm fiel kein besserer ein. Timi und er, das gehörte eben zusammen, auch wenn es mal Ärger gab, auch wenn Timi mal wieder nach einer Kopfnuss schrie und Max sich erbarmte und sie ihm aushändigte. Sie gehörten zusammen und Max wusste, dass Timis Leben ohne diesen großen Bruder, der auf ihn aufpasste, ein ganz anderes Leben wäre. Ein Leben, wie er es leben musste.
Ein letztes Mal: »Timi?« Aber Timi musste wohl am anderen Ende des Raumes liegen . Soll er doch schlafen , dachte Max. »Schlaf, kleiner Bruder, schlaf. Ich pass auf dich auf.«
Timi schlief tatsächlich, allerdings nicht – wie seit seiner Geburt – mit Max in einem Zimmer, sondern zwei Räume weiter, zwischen Alex und Kasimir. Versteckt hinter Kasimir, hatte Timi seinen Bruder zu Boden gehen sehen. Er hatte mit angesehen, wie dieser anschließend irgendetwas murmelnd ein Stück über den Boden gekrabbelt war, sich dann auf die Seite gelegt, die Beine angezogen und eine Hand unter die Wange geschoben hatte. So war er eingeschlafen. Kasis Drängen, ihnen in den vorderen Raum zu folgen, ihnen zu helfen und etwas für einen Ausweg aus dieser ausweglosen Situation zu tun, hatte Timi nachgegeben und als er jetzt erwachte, glaubte er sich im allerersten Moment – diesem gnädigen Sekundenbruchteil, welcher noch zaubern konnte – zwischen Mama und Papa. Jesus in der Hand, spürte er rechts und links Wärme, Brustkörbe, die im regelmäßigen Auf und Ab gegen ihn drückten und er fühlte zum ersten Mal seit vielen Stunden Geborgenheit und keine Angst. Doch der Zauber verflog und Mama verwandelte sich in Alex und Papa in Kasimir. Aber auch das schien Timi so in Ordnung; er erwachte, fand sich zurecht und dachte sofort an Max. Aber statt aufzuspringen und sich bei diesem zu entschuldigen und sich neben ihn zu setzen, blieb Timi liegen, genoss die Wärme und freute sich darauf, Steine zur Seite zu schleppen. Auch mit acht konnte ein Junge schon arbeiten, woanders mussten Kinder dies sogar, in Bergwerken oder Webstuben. Immer dachten alle, er sei noch zu klein und zu schwach und solche Sachen – auf jeden Fall aber noch nicht in der Lage, etwas zu bewegen. Denkste! Heute, das spürte Timi durch dieses Erwachen hindurch, heute würde er etwas bewegen! Stein um Stein und am Abend konnten sie mit etwas Glück vielleicht bereits wieder zu Hause
Weitere Kostenlose Bücher