Apfeldiebe
Einschlafen, wahrscheinlich trug Marianne Probst die Schuld an diesen sentimentalen Minuten eben, sie und das, was sie ihm von den Kindern erzählt hatte. Er wusste, was Abschied bedeutete und wenn er auch nicht wusste, wie Eltern ihre Kinder liebten, konnte er sich doch etwas von diesem Schmerz und der Angst, die diese jetzt fühlen mussten, vorstellen. Ja, die Angst, dass diese Liebe niemals wiederkehrte, die kannte er. Liebte eine Mutter ihr Kind so ähnlich? War das, was die Eltern der vermissten Kinder jetzt durchmachten, vergleichbar mit den eigenen Qualen?
Seiler wusste es nicht. Er wollte auch nicht länger darüber nachdenken. Nachzudenken brachte nie etwas, außer, dass es traurig machte, so traurig, dass man manchmal gar nicht anders konnte als den Kopf ins Kissen zu drücken und zu schreien, so laut es nur ging. Es half nur nichts. Es half gar nichts, hinterher tat einem nur der Hals weh, mehr nicht.
Hasso warf sich auf die Seite, während sein Herrchen die Minuten bis zum nächsten Toilettengang auf den Leuchtzeigern seines Weckers verfolgte.
» Ich hab dich lieb.«
DRITTER TAG
23 Wasser
Im Halbschlaf tastete Max’ Hand über den Boden. Er suchte den Lichtschalter. Hier irgendwo neben seinem Bett musste er doch sein.
Die Dunkelheit verhinderte, dass Max sich bei seinem Erwachen sofort im Jetzt und Hier zurechtfand. Während noch die letzten Finger des Schlafes an ihm klebten und den Jungen nicht erwachen lassen wollten, wunderte der sich über die ihn umgebende Stille. Das ganze Haus schien zu schlafen. Selbst Timi verhielt sich mucksmäuschenstill, obwohl er doch sonst jeden Tag noch vor dem ersten Hahnenschrei wach war und nur an ein oder zwei glücklichen Tagen im Jahr still in seiner Ecke spielte und dabei manchmal auch das Rollo unten ließ. An allen anderen Tagen aber verbreitete er viel zu viel Krach und weckte ganz aus Versehen seinen großen Bruder. Wieso stellte Timi heute nicht seine dummen Fragen und wieso konnte Max selbst mit offenen Augen nichts sehen?!
Max drehte sich auf den Bauch, oder besser: er wollte sich auf den Bauch drehen. Auf halbem Weg besann er sich eines Besseren und fiel zurück. In seinem Kopf polterte bei jeder Bewegung eine ganze Wagenladung leerer Eimer hin und her; sie schlugen gegen die Außenwände ihres Zuhauses, dröhnten wie Glockenschläge. Max fror und seine Rechte suchte nach der verrutschten Bettdecke, zu fassen aber bekam er nur Staub und Steinchen. Wo lag er? Wo …
Die Erinnerung kam und schlug dem Kind ihr Wissen ins Gesicht und so, wie Max nach seinen guten Träumen am nächsten Morgen feststellen musste, dass er eben nur geträumt und Timis Vater nicht umgebracht hatte, blinzelte auch jetzt die Wirklichkeit auf ihn herab, lächelte und erklärte ihm das Leben: Gefangen. Geschlagen. Verraten. Max wünschte sich, er läge tatsächlich in einem Bett aus Staub, aber bitte im eigenen Zimmer. Ein Staubbett, seinetwegen auch ohne Bettdecke, ohne Licht, ohne Timi, ohne Zeit. Aber alles Wünschen half nichts, er blieb in diesem letzten Raum, metertief unter der Erde. Lebendig begraben.
» Timi?« Keine Antwort. Max vermutete den Bruder noch schlafend. Sollte er doch; wer schlief, musste nicht nachdenken, musste nichts spüren. Max wünschte sich, schlafen zu können, aber die Eimer in seinem Kopf hielten mit mehr als nur einem Argument dagegen. Und sie besaßen Verbündete: Max’ Nase gehörte dazu. Sie schmerzte, ließ kaum noch Luft hindurch und als er sie betastete, fühlte sie sich nicht wie eine Nase, sondern wie eine Max ins Gesicht geklebte Wurst an. Alex – fiel es Max wieder ein, Alex hatte dies getan. Und alles nur wegen dieser bescheuerten Flasche?
Max blinzelte zur Decke, ohne etwas sehen zu können. Nacht. Mehr als eine Nacht, alle Nächte der Welt hatten sich hier versammelt. Er wünschte, er hätte seine Armbanduhr mitgenommen, ein Weihnachtsgeschenk seiner Großeltern vom letzten Jahr. Aber wie die meisten Geschenke alter Leute, sah das Ding in den Augen des Jungen aus, als hätte es die Entdeckung Amerikas in der ersten Reihe miterlebt: goldfarben, ohne aus richtigem Gold zu sein, mit einem Armband aus Leder, lauter kleine Löcher darin wie bei einem Gürtel. Ein einziges Mal hatte er probiert, sich das Ding ums Handgelenk zu binden und dabei fast einen Finger eingebüßt. Sie hatten ihm die Uhr in ein kleines Kistchen gelegt und einen handgeschriebenen Zettel dazugepackt; Mutter musste ihn ihrem Ältesten vorlesen: Halte sie in
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