Apfeldiebe
Manche wollten überhaupt nicht mehr passen und andere Erinnerungsbruchstücke sich beim besten Willen nicht mehr in das Große und Ganze einfügen, obwohl man doch ganz genau wusste, dass sie dazugehörten.
Seiler liebte diese Frau, bis zum heutigen Tag. Zwischen der allerletzten Erinnerung und dem Jetzt lagen fünf Jahrzehnte, Jahrzehnte voller Einsamkeit, die der alte Mann sofort für einen einzigen letzten Tag mit seiner Liebe eingetauscht hätte. Er küsste das Bild. Schade, dass sie nicht lächelte. Sie hatte immer gelächelt, ach was, sie hatte gelacht und gesungen wie ein übermütiges Kind.
Als sie sich kennenlernten, hätte es Seiler nie und nimmer für möglich gehalten, dass aus zwei so unterschiedlichen Menschen einmal ein Paar werden könnte. Seiler sprach selten viel, während Mona-Lisas Mund nur ganz, ganz selten stillstand. Sie redete über Sachen und Begebenheiten, über die Seiler nicht einmal nachdachte, sie trug ihr Herz auf der Zunge und wollte mit ihrer Lebenslust und ihrem Temperament so gar nicht in dieses Dörfchen passen. Aber immer wenn er etwas in dieser Art zu ihr sagte, hatte sie ihn ausgelacht und ihn in die Arme genommen. Ja, dieses Lachen. Seiler drückte das Bild an seine Brust, schloss die Augen und versuchte, sich zu erinnern. Damals nach Mona-Lisas Hauptmerkmal befragt, hätte Seiler sofort ihr Lachen genannt. Aber sie hatte ihr Lachen mit sich genommen und heute konnte er sich an kaum mehr als an das erinnern, was dieses einzige Bild ihm Tag für Tag in den alten, dummen Kopf hämmerte: dunkle Augen, weiß strahlende Zähne, breite Kieferknochen, die diesen zerbrechlichen Hals noch zerbrechlicher erscheinen ließen und die von ihrer Kraft und ihrem Willen erzählten. An dies alles konnte Seiler sich erinnern, an ihr Lachen nicht.
Auf diesem Bild lag Mona-Lisas Rechte auf ihrer linken Schulter. Zum Glück, so schenkte ihm die Fotografie doch wenigstens noch die Erinnerung an ihre Hände. Seiler hatte sich immer gewundert, dass ein Mädchen aus einer Bauernfamilie solche Hände haben konnte, so zierlich und beinahe überlang. Sie passten zu ihrem Hals. So, wie sie der Fotograf auf seinem Bild präsentierte, wirkte sie eher wie eine Pianistin oder eine Schauspielerin, aber ganz bestimmt nicht wie eine Frau, die einen Gernot Seiler heiraten wollte. Doch sie hatte gewollt, mehr als alles andere auf der Welt. Und auch Seiler selbst hatte, nachdem er ihr endlich vertraute und dieses Gefühl in sich zuließ, nur noch sie im Kopf gehabt.
Wenn man keinen Menschen zu nahe an sich heranließ, fehlte einem dieser Mensch auch nicht und die Vorfreude auf ein Wiedersehen uferte ebenfalls nicht in das aus, was Seiler in den mona-lisa-losen Tagen zwischen zwei Besuchen empfunden hatte. Ging sie am Sonntagabend, blieb er lange am Zaun stehen und winkte ihr nach, bis sie hinter dem Hügel verschwunden war. Er ging ins Haus und zählte die Tage. Ab Freitag zählte er die Stunden und wenn sie dann am nächsten Sonntag so gegen zehn hinter diesem Hügel auftauchte, stand Seiler bereits wieder am Zaun. Einmal sagte sie, dass sie glaube, er bewege sich die ganze Woche überhaupt nicht.
Hatte sie Seiler erspäht, rannte sie los. Sie rannte und rannte, sprang einen Meter vor ihrem Geliebten ab und in dessen offene Arme und schlang ihre Beine um seine Hüften. Sie liebten sich und dieses Willkommen war, auch wenn es sich an jedem Sonntag wiederholte, kein Ritual, sondern sprach beiden aus den Herzen. Den Preis einer solchen Liebe aber, den bezahlt man immer erst hinterher. Vorher hatte keiner etwas von Selbstvorwürfen erzählt. Niemand hatte ihn vor all den schlaflosen Nächten gewarnt. Und wenn er bis heute noch jeden Sonntagmorgen in die Richtung schaute, aus der sie früher einmal gekommen war, wusste er, dass dies der Preis war, den er für diese kurze glücklichste Zeit seines Lebens eben zahlen musste. Fertig. Alles hatte seinen Preis, nichts gab es umsonst. Nur wer nichts brauchte und nichts nahm, musste auch nichts bezahlen, soviel wusste er jetzt – allerdings eben fünfzig Jahre zu spät.
Um halb eins lag der alte Mann wieder in seinem Bett, stand Mona-Lisas Bild an seinem Platz. Es kam selten vor, dass sich Seiler so viel Zeit für sie nahm wie heute. Meist ließ er nur kurze Gedanken- und Erinnerungsfetzen zu und stürzte sich sofort auf eine Arbeit, die all seine Konzentration erforderte, nur um nicht zu intensiv zurückdenken zu müssen. Wahrscheinlich, so vermutete Seiler beim
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