Apfeldiebe
konnte. Das alles durfte nicht sein! Es durfte einfach nicht. Max wusste wie jeder hier im Raum, dass dieser Fund alles veränderte, alles zerstörte. Hatten die vier Kinder vor ein paar Minuten noch mehr oder weniger entspannt einfach die Zeit bis zu ihrer Befreiung abwarten können, erzählte ihnen dieses Bein, dass es sich bei ihrer Gewissheit, ihrer Hoffnung um nichts anderes als um Lügen handelte. Max’ Schultern bebten und an Alex’ Schulter klebte nach wenigen Sekunden ein nasses T-Shirt. Eine Hand in der Hosentasche, tätschelte er mit der anderen unbeholfen Max’ Rücken, und er genierte sich dafür vor den beiden Kleinen. Ein Mann weint nicht, Punkt. Und ein Mann tröstet keinen anderen Mann, ebenfalls Punkt.
» Kommen wir jetzt nie wieder nach Hause?« Beide Hände vorm Gesicht, hatte Timi sich diese Frage längst beantwortet, aber er hoffte, dass wenigstens Alex ihm widerspräche. Der aber tat ihm diesen Gefallen nicht. Alex befreite sich von Max und setzte sich auf den Boden.
» Ich weiß es nicht, Timi«, sagte er. Timi öffnete seine Finger einen Spaltbreit, um Alex sehen zu können. »Ich weiß es nicht. Auf jeden Fall aber gibt es niemanden dort oben, der hier nach uns sucht.«
Die Stunden verstrichen und in der Welt über den Kindern näherte sich die Sonne ihrem höchsten Stand. Das Thermometer erreichte zum ersten Mal in diesem Sommer die Dreißig-Grad-Marke. Die Suchtrupps rund um Wittlekofen verfluchten diese Hitze, während die Jungen, nach denen sie Ausschau hielten, froren. Regenjacken und lange Hosen boten auf Dauer nur einen unzureichenden Schutz gegen die Kühle im Innern des Berges.
Nach einer Ewigkeit des Starrens löschte Alex die Lampe. Nicht einmal Max protestierte. Keiner sagte ein Wort, ab und an schniefte Timi, ansonsten blieb es still. Die Entdeckung des Beines hatte jedes weitere Wort überflüssig werden lassen. Jeder kannte die Wahrheit.
Max bewegte sich als Erster. Auf allen vieren krabbelte er aus seinem Versteck.
» Mach mal das Licht an.«
Max streckte sich und als sei dieses Strecken das Zeichen zur allgemeinen Rückkehr ins Jetzt, spürte Alex mit einem Mal die Kälte, welche ihm aus der Wand, an der er lehnte, in den Körper gekrochen war. Timi beschützte mit der Hand die Augen vor dem Licht und vor Rufus’ Bein und folgte seinem Bruder, der ohne ein weiteres Wort im Durchgang zum Fässerraum verschwand. Nur Kasimir starrte noch immer ins Leere, streichelte dabei seine verletzte Schulter.
» Na komm, ich hab noch ein Brötchen.«
Drei Minuten später saßen alle vier Kinder im Kreis um diese letzte Mahlzeit.
Alex legte das Brötchen auf seinen Rucksack. Er klappte das Taschenmesser auf und so, wie er es tat, so langsam und jede Bewegung von einer kurzen Pause unterbrochen, bekam dieser alltägliche Vorgang etwas Feierliches und verwandelte sich in eine Andacht. Timi, Max und Kasi folgten jeder seiner Bewegungen. Das Messer teilte das Brötchen in zwei Hälften und Max wollte schon zugreifen und sich die versprochene Hälfte sichern, Alex aber schlug ihm auf die ausgestreckte Rechte. Alex teilte durch vier.
» Nehmt. Mehr haben wir nicht«, sagte er.
Ich schon , dachte Max und stopfte sein Viertel in sich hinein. Noch einen Muffin, noch eine halbe Tüte Gummibärchen .
» Ich hab noch etwas Wasser«, sagte Kasi, stand auf, holte die Flasche und stellte sie neben den Rucksack.
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, aßen die Kinder. Die auf dem Boden liegende Taschenlampe zeichnete lange Schatten an die gegenüberliegende Wand, sprachlose Schatten. Jeder hing ganz eigenen Gedanken nach, fast jeder biss nur winzige Stückchen von dieser letzten Mahlzeit ab und kaute, bis es nichts mehr zu kauen gab, aber so unterschiedlich das auch sein mochte, woran jeder in diesem Augenblick dachte, all diese Gedanken mündeten in einem abschließenden das war’s . Sie hatten Angst, einer wie der andere, und jedem von ihnen spukte ein Was-wäre-wenn durch den Kopf. Alex: Was wäre, wenn ich Kasi nicht an die Decke gebunden hätte? Oder gar nicht erst in dieses verfluchte Loch gefallen wäre? Timi: Was wäre, wenn Papa jetzt hier wäre? Der wüsste einen Ausweg! Max gab Rufus an allem die Schuld und überlegte, was wäre, wenn dieser nicht versucht hätte, das Mädchen zu befreien. Und Kasimir musste immer wieder an ihre alte Hoffnung denken: Was wäre, wenn Rufus noch leben würde und Hilfe geholt hätte? Was wäre, wenn …
Timi leckte sich die Krümel von den
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