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Apfeldiebe

Titel: Apfeldiebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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heute noch ab und zu in seinen Fingerspitzen.
    Die Zeit des Kennenlernens nannte der alte Mann heute nur noch Zeit-des-Wunderns , denn es verging damals kaum ein Sonntag, an dem sie sich nicht wunderten, vor allem über ihre gemeinsamen Vorlieben: Seiler mochte gekochte Eier, aber das Gelbe musste noch ganz flüssig sein. Mona-Lisa verweigerte jedes hart gekochte Ei. Mona-Lisa liebte Apfelkuchen, mit Streuseln und einer Prise Zimt – Seiler ebenfalls. Und als Seiler das erste Mal Pellkartoffeln auf den Tisch stellte und Mona-Lisa schon fragen wollte, ob es dazu Butter und Salz und Quark mit viel Zwiebeln darin gäbe, hielt sie den Mund, weil sie wusste , dass genau das in wenigen Augenblicken auf dem Tisch stehen würde. Es gab kaum etwas, das der eine mochte und der andere nicht, als habe ein Bäcker vor Jahren ein Lebkuchenherz gebacken, auseinandergerissen und in die Welt hinausgeschickt. Die beiden nutzlosen Teile hatten zueinandergefunden und jetzt erst begann dieses Herz wirklich zu schlagen.
    Im Frühjahr des Folgejahres sprachen beide zum ersten Mal von Heirat und von Kindern. Mona-Lisa kannte sich inzwischen in Seilers Haushalt so gut aus, dass er in Ruhe die Tiere versorgen konnte, während sie den Tisch deckte oder Wäsche auf die Leine hinter dem Haus hing. Sie sprachen von Kindern und einem neuen Stall und von einem alten Traktor, den Mona-Lisas Vater in seinem Schuppen stehen hatte und als Hochzeitsgeschenk in Aussicht stellte.
    » Wir hätten bestimmt bessere Kinder in die Welt gesetzt. Nicht solche Diebe.« Seiler bückte sich nach dem Teller. Mit einem Tuch entfernte er die letzten Streifen und stellte das Geschirr zurück in den Schrank und Hasso sah ihm dabei mit inzwischen schon etwas wacheren Augen zu. Das Tier wusste genau, was wann kam. Schranktür schließen und das Tuch über die Stuhllehne hängen. Seiler tat dies. Jetzt das Fenster – Seiler schloss es und Hasso lag nun wie eine Sphinx unter dem Tisch, mit gespitzten Ohren, und gähnte. Sein Herrchen trank wie erwartet im Stehen den letzten Schluck Tee und brachte die Tasse zum Spülbecken, der Ton, als das Gefäß Metall berührte, wirkte auf den Hund wie ein Weckruf. Er hob das Hinterteil, streckte sich und rannte mit wedelndem Schwanz zur Tür. Seiler steckte sich einen Hustenbonbon in den Mund, sah aufs Thermometer und beschloss, seine zweite Jacke zu Hause zu lassen; schon achtzehn Grad und kein einziges Wölkchen am Himmel, ganz anders als gestern Morgen, wo die Feuchtigkeit, die der Nieselregen sogar hierher ins Haus getrieben hatte, wie Klebstoff in den Gelenken des Alten gehangen und jede Bewegung zur Qual gemacht hatte. Heute fühlte er sich gut und was er gestern der Pilze wegen, die jetzt drüben im Schuppen auf einem Faden aufgefädelt trockneten, versäumt hatte, wollte er heute nachholen. Der nächste Winter kam bestimmt, Seiler hoffte zwar ohne ihn, aber man wusste ja nie. Denn, so Seiler, Hoffnungen existierten schließlich nur, um zu enttäuschen. So wie er Mona-Lisa, wie sie ihn.
    Für das kurze Stück bis zum Waldrand legte Seiler seinem Mischling eine Leine an, in die Tasche, die er sich umhängte, stopfte er eine Flasche Wasser und zwei Seile für das Holz, das er heute sammeln wollte, denn der nächste Winter kam bestimmt. »Ich weiß, ich wiederhole mich.«
    Als das Paar Seilers Haus verließ, fiel dem Alten ein Stück weiter die Straße hinunter ein Polizeiauto auf. Soweit er das von hier aus sehen konnte, stand es in der Hofeinfahrt vom alten Richard. Gut, so alt nun auch wieder nicht, denn diesen Richard und Gernot Seiler trennte nicht einmal ein halbes Jahr, zu Seilers Ungunsten. Viel zu tun hatte er mit Richard nie gehabt, weder als Kind noch als Erwachsener. Richards Vater, dienstuntauglich und somit vom Fronteinsatz verschont, hatte seinen Sohn mit beiden Fäusten großgezogen und dieser, als die Zeit für dessen Kind kam, die Tradition der Familie am Leben erhalten. Alles wiederholte sich eben, wie in einem Hamsterrad: eine Runde für dich, gut gemacht, jetzt aber bitte aussteigen, der nächste ist an der Reihe. Und so weiter und so fort. Zurzeit schlug da vorn gerade die vierte Generation, denn auch der Sohn, den Richard großgeprügelt hatte, sprang mit seinem Nachwuchs nicht gerade zimperlich um. Sicher, heute durfte man sein Kind nicht mehr in aller Öffentlichkeit zur Ordnung rufen, heute gab es Jugendämter und Sozialarbeiter und petzende Nachbarn. Alle passten sie schön auf, Seiler aber wusste, dass

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