Apfeldiebe
auch eine Nacht im Keller erzieherische Wirkungen zeitigen konnte, war zwar auch nicht gerade die feine englische Art, aber immerhin besser, als den Nachwuchs halbtot zu schlagen wie früher. Er selbst – Seiler – hätte seine Kinder bestimmt nicht geschlagen. Nein. Er und Mona-Lisa hätten ihre Kinder geliebt und in die Arme genommen und erzogen, anders als die anderen. Aber das alles ging den alten Seiler nichts an, das war Richards Sache und die von seinem Sohn. Trotzdem freute er sich über die Anwesenheit der Polizei.
» Vielleicht bekommen die jetzt endlich einmal richtig Ärger, was? Wär doch gut, oder?«
Auch am Sportplatz stand ein Polizeiwagen, Seiler sah ihn, als er über seine Streuobstwiese darauf zuhielt, und blieb stehen. Eigentlich hatte er in dem hinter dem Sportplatz liegenden Waldstück Holz suchen wollen, aber genau dort warteten Uniformierte, unterhielten sich, einer verschwand im Wald. Seiler musste nicht lange überlegen, um die Pläne für diesen Tag kurzerhand über den Haufen zu werfen. Polizei bei Richard und hier am Waldrand? War dem oder einem aus seiner Sippe etwas zugestoßen? Hatten die einmal zu viel zugeschlagen? Und wenn schon, er hatte damit nichts zu tun und er hatte auch keine Lust, von denen da drüben befragt zu werden, sollten die doch ihr Ding machen und er seins – beides aber schön getrennt voneinander.
Gernot Seiler schwenkte nach links, überquerte die Straße hinab ins Steinatal und befand sich nach wenigen Metern außer Sichtweite der Uniformierten. Er ließ seinen Hund von der Leine und Hasso verschwand vor seinem Herrchen im Wald. »Dann sammle ich eben hier mein Holz. Soll hinterher bloß keiner kommen und meckern!«
19 Tot
» Was ist das?! Nimm es weg! Weg!«
Max’ Schreie rollten von der Fundstelle kommend durch den Raum mit den Fässern und weiter bis zu Kasimir und Timi. Die in der Dunkelheit in ihrem Spiel gefangenen Kinder erstarrten mitten in den einmal angefangenen Bewegungen, Timi dabei mit beiden Händen in Kasimirs Gesicht.
Nachdem die beiden Großen – und mit ihnen die Lampen – nach vorn gegangen waren, hatte Kasi die Idee zu diesem Spiel gehabt, zu Hause spielte er es oft mit seinen Eltern: Einer bekam die Augen verbunden und das Gegenüber – manchmal Mama, manchmal Papa, meist aber er selbst – zog Grimassen und der Blinde musste mit den Händen diese Grimasse lesen. Fast jeden Sonntagmorgen hatten sie dieses Spiel im Riesenbett der Eltern gespielt, zuerst gekuschelt, danach gespielt. Für Timi war dieses Spiel neu, in Kasimir aber weckte es Erinnerungen und zum allerersten Mal in seinem Leben so etwas wie Melancholie, ein Gefühl, welches immer nur dann auftaucht, wenn man sich an etwas Vergangenes erinnert, etwas, das man nicht wieder zurückholen kann. Und das Spiel verstärkte die Sehnsucht des Jungen nach seinen Eltern.
Kasi hatte die erste Runde gewonnen (gerümpfte Nase, abstehende Ohren, herausgestreckte Zunge), auch wenn ihm die schielenden Augen Timis natürlich entgangen waren. Die gerade laufende zweite Runde jedoch zog sich in die Länge, aber jetzt, als Timi Kasis über die Oberlippe geschobene untere Zahnreihe betastete und sich ein Bild zu machen begann, drang Max’ Geschrei zu ihnen. Gänsehaut. Timi sprang auf.
» War das Max?«
» Ja.«
» Da ist was passiert!«
Timi rannte los oder besser, er versuchte es. Er stolperte gegen Kasimir und fiel zu Boden. Auf allen vieren tastete er sich bis zur Wand und, als er Kasimirs Arm erreichte, Hand in Hand mit diesem zum Durchgang in den Fässerraum. Am gegenüberliegenden Ende dieses Raumes sahen sie Licht.
Als die beiden Kleinen zu Alex und Max stießen, verstanden sie zuerst überhaupt nichts. Alex saß auf halber Höhe des Schuttberges, Max kauerte unter dem Tisch, exakt da, wo die letzten Jahrhunderte einmal die Truhe gestanden hatte. Max weinte wie ein kleines Kind, nichts erinnerte mehr an den großen, starken Bruder und Mädchenquäler. Dieses Weinen an sich irritierte Timi nicht weiter, denn Max weinte oft, allerdings ausschließlich im Beisein eines Erwachsenen. Max konnte auf Kommando heulen wie ein Schlosshund und tat dies immer dann, wenn er mit seinem begrenzten Vorrat an Argumenten nicht weiterkam. Mit Tränen ging vieles leichter, sie wirkten in dieser Welt wie Schmiermittel, wie Öl, auf dem die Verbote der Erwachsenen ausrutschten und Max bekam plötzlich das neue Computerspiel, er durfte länger fernsehen und auch die eingeworfene Scheibe verlor
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