Apocalyptica
Bediensteten zu Boden gestreckt. Nestor hatte nur durch sein imposantes Äußeres nicht das Schicksal der übrigen geteilt. Stattdessen stand er mit gesenktem Haupt inmitten des Chaos, das zuvor Isabellas Arbeitszimmer gewesen war und nun eher einem Trümmerhaufen glich.
„Wie konnte das geschehen?“ Isabellas Stimme überschlug sich beinahe, und ein feiner Sprühregen aus Speichel schlug dem Hünen entgegen, als die Mutter seines Schützlings nur wenige Millimeter vor seinem Gesicht einen erneuten Tobsuchtsanfall bekam. Nestors Blick blieb am Leichnam Kemenas haften, der inmitten des Raumes über einer sich schnell ausbreitenden Blutlache lag und fragte sich, ob Isabella überhaupt noch in der Lage war, einen klaren Gedanken zu fassen. Er wusste, dass sein Herr, Antonio Santiago, bereits auf dem Weg in den Palast war, und was Isabella nicht erledigte, würde sicherlich das Oberhaupt der Jünger des Morgensterns übernehmen. Nestor hatte keine Angst vor dem Tod. Er hatte ihm schon oft ins Angesicht geblickt. Vielmehr schämte sich der Hüne, dass ihn ein Vierjähriger aufs Kreuz gelegt hatte. Nie hätte er vermutet, dass Naphal auf die Idee kommen würde, die Stadt auf eigene Faust zu verlassen. Er hatte den Tod verdient, wenn es dem Jungen wirklich gelungen war. Er und alle anderen, die für die Sicherheit Cordovas und insbesondere das Wohl des Auserwählten verantwortlich waren.
Statt einer Antwort schnaubte Nestor nur und verzog das Gesicht zu einer Grimasse völliger Verständnislosigkeit gegenüber dem Geschehenen. Isabella von Cordova versetzte ihm eine schallende Ohrfeige, die selbst den Kopf eines Riesen wie Nestor herumriss. Doch die Frau hatte gerade erst angefangen, ihrem Grimm Luft zu machen. Mit einem ungezielten Schlag aus der anderen Richtung traf Isabella die obere Gesichtshälfte des Mannes, so dass seine Oberlippe aufplatzte. Den dritten Schlag führte die Frau nicht zu Ende. Mitten in der Bewegung schloss sich die Hand des Riesen um ihren Arm wie ein Schraubstock. Der Blick des Mannes hätte Eisen zum Schmelzen bringen können, als er Isabella einen Stoß versetzte, der sie durch den halben Raum taumeln ließ, wo sie hilflos mit den Armen rudernd über einen umgestürzten Schemel fiel und mit dem Rücken hart an eine Bank in der Ecke des Raumes stieß. Der Aufprall raubte ihr vorübergehend die Luft, und sie war lediglich imstande, Nestor aus großen Augen anzustarren.
„Ich werde ihn wiederbringen.“ Nestor hatte die Wörter zwischen den Zähnen hindurchgepresst und löste den Blick nicht von Isabella, während er mit schweren Schritten das Arbeitszimmer verließ, wohl wissend, dass er mit seinem Handeln sein Leben verspielt hatte, egal, ob er Naphal wohlbehalten wieder zurückbringen würde oder nicht.
Nachdem der Leibwächter ihres Sohnes den Raum verlassen hatte, ließ die Diadochin ihren Tränen freien Lauf. Sie war zornig, in erster Linie jedoch nicht auf ihre nichtsnutzige Wache oder ihre Dienerschaft, sondern vielmehr auf sich selbst. Sie hatte ihren Sohn selbst in diese Situation manövriert. Sie hatte ihn am Morgen aus ihren Gemächern gescheucht wie einen herrenlosen Hund. Seit die Traumsaat am Himmel über Cordova aufgetaucht war, hatte sie keine ruhige Minute mehr gehabt und ihrem Sohn sicher nicht die Aufmerksamkeit gewidmet, die ihm zustand. Aber er musste verstehen, dass die besonderen Umstände sie voll mit Beschlag belegten. Die Jahre seit Naphals Geburt hatten mehr an ihr gezehrt, als sie sich einzugestehen bereit war. Zu den Problemen, die das Volk nach dem Erlöschen der Fegefeuer mit Missernten, Temperatureinbrüchen und Unwettern hatte, gesellten sich die ständigen offiziellen Auftritte für die Jünger des Morgensterns, deren Anspruch auf ihren Sohn Naphal, den sie für die Reinkarnation ihres Erretters hielten, sie zu zerreißen drohte. Ihn in die Hände Santiagos zu geben, damit die Jünger sich vollends um Naphal und dessen Verehrung innerhalb des Kultes kümmern konnten, hatte sie ausdrücklich abgelehnt. Sie war nicht bereit, ihren Sohn zu opfern und der Sekte zu übergeben, Pakt hin, Vereinbarung her. Sie hatte sich schon darauf eingelassen, dass die Jünger Nestor und einige andere als „Beschützer“ zurückließen. Das war bereits mehr, als man von ihr erwarten konnte. Immerhin war sie die Mutter des Knaben und bestimmte über Wohl und Wehe ihres Kindes. Niemand sonst.
Wie ein Racheengel stand Antonio Santiago in der Tür. Unerwartet, unpassend und
Weitere Kostenlose Bücher