Apocalyptica
unerwünscht. Der Zorn überkam sie wie eine Woge, die an einen von Unwetter gebeutelten Strand schlug. Sie wollte nicht, dass er sie in einem so schwachen Moment sah. Schneller, als es für ihren Kreislauf gut war, erhob sie sich und wischte sich mit dem Ärmel ihrer enganliegenden braunen Jacke die Tränen aus dem Gesicht. Sie hielt mit Macht ihre Augen offen und stützte sich an der Wand zu ihrer Rechten ab, um das Schwindelgefühl abzuschütteln, das sie zu übermannen drohte.
Antonio Santiagos Augen waren zu schmalen Schlitzen verengt, seine Kiefermuskulatur arbeitete sichtbar, doch er starrte Isabella nur hasserfüllt an und überließ es ihr, den Reigen von Vorwürfen und Entschuldigungen zu eröffnen.
„Was?“, blaffte die Diadochin, während sie sich straffte, um in Gegenwart des Oberhauptes der Jünger des Morgensterns nicht den Eindruck von Schwäche zu erwecken.
Santiago ließ sich Zeit, um der Antwort auf Isabellas Frage genügend Gewicht zu verleihen. „Du hast versagt.“
„Versagt? Was redest du da? Du vergisst dich.“ Langsam hatte Isabella von Cordova den Eindruck, wieder in ihrem Element zu sein. „Ich habe dich nicht gebeten, hierherzukommen, und sicherlich geht es dich auch nichts an, was in meiner Stadt oder gar in meinem Palast geschieht.“
Santiago machte ein paar wohlberechnete, langsame Schritte in das Arbeitszimmer und verschränkte dann die Arme vor der Brust. „Wenn es um den Jungen geht, dann geht es mich sehr wohl etwas an. Vergiss das nicht.“
„Er ist ein kleiner Junge und spielt Verstecken. Wohl kaum ein Grund, hier unangemeldet in meinen Privatgemächern aufzutauchen.“ Isabella machte sich einen geistigen Vermerk, nach diesem unerfreulichen Gespräch gleich noch ein paar Wachen dafür verantwortlich zu machen, dass ihr Gegenüber es überhaupt bis hierher geschafft hatte.
„Der Morgenstern ist schon den ganzen Tag verschwunden. Er hat ein Boot genommen und die Stadt verlassen. Das ist wohl kaum ein Versteckspiel, oder würdest du mir da widersprechen wollen?“
Die Diadochin war wenig überrascht, dass Antonio so gut über das Geschehen innerhalb ihrer Mauern informiert war, dass es jedoch so schnell ging, ließ sie anerkennend eine Braue hochziehen. „Er wird bald wieder hier sein, keine Sorge. Dein Erlöser ist vier Jahre alt. Wie weit soll er kommen? Allein?“ Isabella setzte eine geringschätzige Miene auf, als wolle sie sagen, für was für einen Idioten sie ihr Gegenüber hielt, dass er annahm, ein kleines Kind könne einfach so verschwinden.
„Du wandelst auf einem schmalen Grat, Isabella.“ Santiago hatte die stumme Herausforderung sehr wohl bemerkt, die im Blick der Diadochin lag, jedoch beschlossen, dass er warten konnte, bis sich herausstellte, ob sie recht hatte oder seine Sorge berechtigt war. In letzterem Fall würde Isabella für ihre Verfehlung zahlen müssen, und der Preis war ganz eindeutig in Blut zu entrichten.
Statt weitere Drohungen auszusprechen, die an der Situation ohnedies nichts ändern würden, drehte sich der schwarzhaarige Mann um und verließ mit festen Schritten das Zimmer. Im Türsturz wandte er sich um. „Ich warte im Gästetrakt auf seine Heimkehr.“
Als Santiago endlich das Arbeitszimmer verlassen hatte und seine Schritte im Gang verhallten, stieß Isabella einen Seufzer aus und lehnte sich schwer an den großen Schreibtisch, der den Raum dominierte. Sie musste sich konzentrieren und ihre Emotionen niederkämpfen. Wohin konnte Naphal gegangen sein?
„Wer bist du?“ Die Frage klang in den Ohren des Jungen ängstlicher, als er es hatte haben wollen. Der schwarze Schatten über ihm war vor ihm niedergekniet. Dennoch nahmen die riesigen Schwingen, die die Gestalt einrahmten, ihm jegliches Licht und ließen das Wesen vor ihm seltsam zweidimensional wirken.
Die Gestalt antwortete nicht, sondern legte nur wie ein Tier den Kopf schief.
„Kannst du nicht sprechen?“, setzte Naphal erneut an. Auch diesmal erhielt er keine Antwort. Stattdessen erhob sich die Gestalt und entfernte sich von dem Jungen. Naphal hörte das Knirschen der Füße des Fremden im Sand. Er wollte jetzt nicht allein sein, also versuchte er aufzustehen, um ihm zu folgen und all seine bohrenden Fragen loszuwerden. Beim Versuch, sich abzustützen, holte die Realität den Jungen wieder ein. Sein linker Arm schmerzte schrecklich, und ihm wurde übel. Behutsam tastete er nach dem schwarzen Stück Panzer, das sich in seinen Arm gebohrt hatte. Es war fort.
Weitere Kostenlose Bücher