Apocalyptica
Furcht anstecken zu lassen, die alle Umstehenden ergriffen hatte.
„Sofort alle nach unten!“ Die Stimme seiner Mutter durchschnitt die Stille auf der Terrasse des Anwesens derer zu Cordova. Isabella war eine herrische Persönlichkeit. Sie war eine der wenigen Frauen, die es in Europa zu großer Macht gebracht hatten, und das war nicht zuletzt ihrem Ruf als berechnende und eiskalte Taktikerin zu verdanken. Doch an diesem Tag lag von alldem nichts in der Stimme von Naphals Mutter. Der Junge hatte ein gutes Gefühl für die feinen Zwischentöne und Stimmungsschwankungen von Menschen. Er hatte schon früh bemerkt, wie seine Mutter ein ums andere Mal versucht hatte, ihn vor der bösen Welt außerhalb der sicheren Mauern Cordovas zu beschützen. Ihre Ausreden und Ausflüchte waren immer ins Leere gelaufen. Naphal machte sich nicht die Mühe, seine Mutter oder ihre Bediensteten darauf hinzuweisen. Wichtig war, dass er wusste, wann sein Gegenüber die Wahrheit sagte und wann nicht. So konnte er auch jetzt hören, dass die Befehlsstimme seiner Mutter nur eine Fassade war, eine oft geprobte Notwendigkeit. Tief in ihrem Inneren war auch sie bestürzt von dem, was sie sah.
Nur zögerlich löste sich die Versammlung auf, und übrig blieben letztlich Naphal, Nestor und die in einiger Entfernung am Fuße der Treppe zur Terrasse erstarrte Kemena. Ihr Mund war halb geöffnet, und sie formte Wörter, die nur sie selbst verstehen konnte. Vermutlich ein Gebet.
„Hast du nicht verstanden, was ich gesagt habe?“ Isabella stand, die Hände in die Seiten gestemmt, auf einem Mauerrest eines Bauwerks aus der Zeit vor der Zweiten Sintflut, die der Herr über die Menschen gebracht hatte, um sie für ihre Vergehen wider seine Gesetze zu strafen. Zumindest war das die offizielle Doktrin der Angelitischen Kirche, die in der Welt die Vormachtstellung einnahm. Jedenfalls noch. Wenn es nach seinen Lehrern ging, würde dieser Umstand sich sehr bald ändern. Naphal wusste nicht viel über die Doktrin der Angeliten, nur so viel, wie seine Lehrmeister ihn wissen ließen. Ihrer Auffassung nach musste man den Feind kennen, um ihn bekämpfen zu können. Allerdings hatte Naphal den dringenden Wunsch, bald eine zweite Meinung einzuholen, denn er war nicht sicher, ob wirklich alle Schlussfolgerungen seiner Lehrer auf Logik und nicht etwa auf religiöser Verblendung basierten. Seine Mutter scherte sich nicht um Religion. Sie hasste die Angeliten, hielt sie für Heuchler und schlechte Menschen. Er war bereit, ihr ihre Meinung zu lassen. Wer war er, sie in Frage zu stellen? Nun ja, er war der Sohn eines Engels und einer Sterblichen, soweit hatte er verstanden. Seine Lehrer, seine Onkel und wohl noch viele andere glaubten, er sei eine Art Erlöser. Der Morgenstern. Was immer sie damit auch meinten. Sein Geist war dem eines Vierjährigen haushoch überlegen, das hatte er bereits über ein Jahr zuvor herausgefunden, als man ihm gleichaltrige Spielkameraden an die Seite stellen wollte. Sie brabbelten nur dummes Zeug und langweilten ihn. Dennoch hatte es Wochen gedauert, bis die Erwachsenen eingesehen hatten, dass Naphal seinen Spielkameraden weit voraus war.
„Doch, Mutter.“ Naphals Blick wanderte noch einmal zum Himmel. „Was ist das?“
„Ich weiß es nicht, mein Junge.“ Die Diadochin von Cordova wagte kaum, dem Blick ihres Sohnes zu folgen. „Aber es ist besser, wenn du jetzt mit den anderen in den Keller gehst.“
Naphal zuckte die Achseln, ließ den Kopf hängen und folgte schlurfend der Dienerschaft, genau wie Nestor und Kemena, die zwar immer noch schockiert, aber immerhin wieder Herrin ihrer Körperfunktionen war. Wieder einmal hatte seine Mutter ihn belogen.
„Wer ist der Mann, Ama?“
Lâle ignorierte die Frage ihrer Tochter Schawâ und stand wie vom Donner gerührt im Tor zu den Häusern der Heilung des Sebaldusstifts zu Nürnberg.
„Was willst du denn hier?“ Lâle war selbst erschrocken über ihren harschen Tonfall. Sie versuchte, die Fassung zu bewahren und sich nicht anmerken zu lassen, dass der unerwartete Besuch des Mannes sie vollkommen aus der Bahn warf. Er war der Vater ihrer Tochter, aber in den vergangenen vier Jahren hatte er sich einen Dreck um sie und Schawâ gekümmert. Was hatte sie erwartet? Sie kannte es nicht anders von ihm. Er war wie ein Gespenst, ein Mann wie eine Gestalt aus einem Kindermärchen. Er war der Wanderer. Wo er auftauchte, stand die Welt kurze Zeit später Kopf, und genau dieser Umstand machte
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