Apocalyptica
sie, was ihrer Tochter von Anfang an aufgefallen war. Der Wanderer war nicht allein. Noch nie hatte sie den Mann in Begleitung anderer angetroffen. Wahrscheinlich war es ihr deshalb erst jetzt aufgefallen. Sie waren zu viert. Eine dunkelhäutige Frau mit schwarzem, glattem Haar, das ihr bis auf die Hüfte fiel und zwei Männer, von denen der eine mit seinen ausgeprägten Gesichtszügen, den stahlblauen Augen und der etwas lausbübischen Frisur sicherlich von Frauen umschwärmt wurde. Der andere, der die Gruppe komplettierte, hätte gut und gerne ein jüngerer Bruder des Wanderers sein können. Warum Lâle das fand, wusste sie nicht, denn wie der Wanderer selbst wirkten auch die übrigen absolut alterslos. Lâle hätte nicht sagen können, ob die Frau und die beiden Männer nun fünfundzwanzig oder fünfundsechzig Jahre alt waren. Vermutlich, so viel hatte sie in vierunddreißig Jahren auf dieser Erde gelernt, stimmte beides nicht.
Für all das hatte Schawâ keine Augen. Ihr Blick war fest auf die Muscheln und versteinerten Knochen zu Füßen der Neuankömmlinge gerichtet, die sich wie durch Zauberei aus dem sorgsam behauenen Gestein des Fußwegs gewaschen hatten. Andächtig fuhr sie mit den Fingern die rauen Strukturen der fossilen Zeugnisse vergangenen Lebens nach und legte dabei den Kopf schief, als könne sie hören, was diese zu berichten hatten.
Lâles Blick wanderte zwischen ihrer völlig in sich versunkenen Tochter und der Gruppe um den Wanderer hin und her. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte oder was der Wanderer meinte, wenn er sagte, es sei nun soweit. Sie wusste nur, dass sie nicht wieder den Fehler begehen und auf ihn hören würde, auf diesen faszinierenden und zugleich abstoßenden Mann, der ihr nie die Liebe zurückgegeben hatte, die sie ihm all die Jahre entgegengebracht hatte. Dennoch konnte sie keinen Hass empfinden, auch wenn sie es noch so gerne getan hätte. Hätte sie ihn hassen können, wäre so vieles leichter für sie gewesen. Sie hätte sich selbst wieder lieben können und vielleicht auch einen anderen Mann. Möglicherweise Bruder Mertin, der sie so inbrünstig umwarb und wie ein Vater für Schawâ sorgte. Vielleicht hätte sie die Vergangenheit endlich hinter sich lassen und einen Neuanfang wagen können. Doch jedes Mal, wenn Lâle das Gefühl gehabt hatte, ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen, war etwas Unvorhergesehenes passiert und hatte sie ins Chaos zurückgeschleudert.
Als sie sah, wie die dunkelhäutige Frau vor Schawâ in die Hocke ging und die Hand nach ihr ausstreckte, blaffte sie: „Fass sie nicht an!“
Die Frau schien sich von Lâles rüdem Tonfall nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. Mit einem Lächeln auf den Lippen sah sie der vor Zorn und Unsicherheit bebenden Frau entgegen und zog ihre Hand wieder zurück. Die Blicke der alterslosen Frau und des Wanderers trafen sich kurz, und sie richtete sich wieder auf, um erneut zur Salzsäule zu erstarren wie der Rest der Gruppe. Von all dem bekam Schawâ nichts mit.
Nach einer scheinbaren Ewigkeit brach der Wanderer das Schweigen, das sich wie ein Alpdruck auf Lâle gelegt hatte.
„Verzeih, Lâle, Schwester von Engeln, wir wollten dir keine Angst machen oder dich deiner Tochter berauben. Wir sind nur hier, um Schawâ auf das vorzubereiten, was vor ihr liegt.“
„Was vor ihr liegt? Niemand kann Schawâ auf das vorbereiten, was vor ihr liegt.“ Lâle ahnte bereits, worauf der Wanderer hinauswollte, spielte aber bewusst die Dumme, um ihn dazu zu bewegen, sich wenigstens dieses eine Mal zu erklären. In all den Jahren, in denen sich die Wege Lâles immer wieder mit denen des Wanderers gekreuzt hatten, hatte er stets in Rätseln gesprochen. Diesmal wollte die Frau die Oberhand behalten und ihn nicht mit Andeutungen und Halbwahrheiten davonkommen lassen. Das war sie sich und Schawâ schuldig.
Der Wanderer lächelte geduldig. „Du hast recht. Doch wir können ihr die Mittel anhand geben, die sie braucht, um die richtigen Entscheidungen zu treffen.“
„Entscheidungen? Was für Entscheidungen?“ Lâle ließ nicht locker.
Sehr zur Überraschung der Frau antwortete nicht der Wanderer auf ihre Frage, sondern der attraktive Mann mit den leuchtend blauen Augen hinter ihm. „Die Endzeit steht bevor. Die Mächte sammeln sich, um zu beenden, was sie begonnen haben. Die Erde wird danach nicht mehr so sein, wie du sie kennst, Menschenfrau. Deine Tochter spielt eine wichtige Rolle in all dem. Sie muss wissen,
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