Mitch
1. KAPITEL
D ie neue Lehrerin würde es nicht lange in Hard Luck aushalten.
Für Mitch Harris stand bereits nach wenigen Sekunden fest, dass Bethany Ross nicht nach Alaska gehörte. Sie war wie ein Paradiesvogel, denn alles an ihr war auffällig: ihr lebhafter Gesichtsausdruck, das blonde, von der Sonne gebleichte Haar, das ihr in dichten Wellen auf die Schultern fiel, die klassischen Züge und die dunkelbraunen Augen.
Sie trug einen türkisfarbenen Overall mit einem breiten gelben Gürtel, der ihre schmale Taille betonte, und dazu farbige Sandaletten. Mit damenhaft gekreuzten Beinen saß sie in Abbey und Sawyer O’Hallorans Wohnzimmer auf der Sofalehne.
Dieses Treffen fand ihr zu Ehren statt. Abbey und Sawyer hatten die Mitglieder der Schulbehörde eingeladen, damit alle die neue Lehrerin kennen lernen konnten.
Überrascht stellte Mitch fest, dass Bethany aufstand und auf ihn zukam, bevor er sich ihr vorstellen konnte. „Ich glaube, wir kennen uns noch nicht“, sagte sie, wobei sie herzlich lächelte. „Ich bin Bethany Ross.“
„Mitch Harris.“ Mehr brauchte er ihr wohl kaum zu sagen, denn bevor der erste Schnee fiel, würde sie wieder abreisen. „Willkommen in Hard Luck“, fügte er hinzu.
„Danke.“
„Wann sind Sie gekommen?“ erkundigte er sich höflich, während er sein Weinglas in der Hand drehte.
„Heute Nachmittag.“
Damit hatte Mitch nicht gerechnet. „Sicher sind Sie müde nach dem Flug.“
„Eigentlich nicht“, erwiderte sie schnell. „Wenn ich bedenke, dass ich heute Morgen aus San Francisco abgeflogen bin, müsste ich es eigentlich sein. Aber ich bin schon seit Tagen total aufgedreht.“
Mitch vermutete, dass sie von Hard Luck enttäuscht war, denn es gab wohl kaum einen größeren Kontrast zu dem lockeren Lebensstil in Kalifornien. Hard Luck, das fünfzig Meilen oberhalb des nördlichen Polarkreises lag, war ein faszinierender Ort, und seine Einwohner hatten einen starken Gemeinschaftssinn. Das Leben war für sie nicht leicht, und sie arbeiteten hart. Abgesehen von Midnight Sons, der Charterfluggesellschaft der drei Brüder O’Halloran, gab es nur noch wenige Betriebe, wie zum Beispiel Ben Hamiltons Café. Mitch, einer der wenigen Beamten im Ort, arbeitete für das Innenministerium. Er war der Sicherheitsbeamte der Stadt, also eine Art Polizist, und betreute zusätzlich die Besucher des Nationalparks. Ab und zu kamen Trapper oder Mitarbeiter der Mineralölfirmen nach Hard Luck. Für die Menschen, die am Rande der Zivilisation lebten, war der Ort eine florierende Metropole.
In letzter Zeit hatten die Medien ständig über Hard Luck berichtet, doch damit hatte Bethany Ross zum Glück nichts zu tun. Allerdings vermutete Mitch, dass sie genauso schnell die Flucht ergreifen würde wie so manch andere Frau, die die Brüder O’Halloran nach Alaska geholt hatten.
Da es nicht viele Frauen gab, die ein so entbehrungsreiches Leben fernab jeglicher Zivilisation auf sich zu nehmen bereit waren, hatten die O’Hallorans eine Aktion ins Leben gerufen, um Hard Luck für eine größere weibliche Zielgruppe attraktiv zu machen. Abbey war sozusagen einer ihrer Erfolge, doch es hatte auch einige Reinfälle gegeben, wie zum Beispiel diese Allison, die es nicht einmal vierundzwanzig Stunden ausgehalten hatte. Und erst in der vergangenen Woche waren zwei Frauen eingetroffen, die gleich den nächsten Flug zurück genommen hatten. Bethany Ross jedoch hatte sich bereits im Frühjahr um die freie Stelle beworben, bevor der ganze Unfug begonnen hatte.
Ihr hinreißendes Lächeln schien zu besagen, dass sie ihn durchschaute. „Ich möchte meinen Vertrag erfüllen, Mr. Harris. Als ich den Job hier angenommen habe, wusste ich, worauf ich mich einlasse.“
Mitch wurde sichtlich verlegen. „Sie haben also meine Gedanken gelesen.“
„Ich mache Ihnen keinen Vorwurf daraus, dass Sie an mir zweifeln. Ich passe nicht ganz hierher, stimmt’s?“
Nun musste er ebenfalls lächeln. „Bestimmt hatten Sie sich Hard Luck anders vorgestellt.“
„Ich werde mich schon eingewöhnen.“
Sie schien davon so überzeugt zu sein, dass er sich bereits zu fragen begann, ob er sie falsch eingeschätzt hatte.
„Ehrlich gesagt, weiß ich gar nicht, was ich erwartet hatte. Ich hatte schon Bedenken hierher zu ziehen, weil in letzter Zeit so oft über Hard Luck berichtet wurde.“
Amüsiert erwiderte er ihren Blick. Natürlich hatte er einige der Artikel gelesen, die in den Boulevardblättern erschienen
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