Apocalyptica
Gemmingen noch sagen. Sein Name war ihm entglitten, doch was bedeuteten Namen schon. Er selbst hatte schon Hunderte von Namen geführt und war sich nicht sicher, ob es eine Ironie des Schicksals, Fügung oder schlicht seine eigene Sentimentalität gewesen war, die ihn seinen ursprünglichen Namen nach so vielen Jahren wieder hatte annehmen lassen. Jedenfalls war er diesen samaelitischen Emporkömmling jetzt genauso los, wie es ihnen damals mit dem anderen Engel gelungen war, allerdings hatte der Raguelit damals nicht so viel Wind gemacht wie dieser Midael. Zu Gemmingen blieb stehen und orientierte sich. Er schüttelte den Kopf, blickte zuerst nach links, dann nach rechts und konnte sich sekundenlang nicht erinnern, welchen Weg er in dem dichten Gewirr aus Gängen und Räumen wählen musste. Schließlich fiel es ihm wieder ein, und er schalt sich einen alten Narren, dass es ausgerechnet ihm, der diese Pfade Tausende von Malen beschritten hatte, gelungen war, sich beinahe zu verlaufen. Doch er war abgelenkt.
Seine Sorge galt zwei Unbekannten. Ab Arbogast hatte sich zu der neuerlichen Situation noch nicht geäußert, wohl aber Truppenkontingente in die Ewige Stadt entsandt und weitere durch einen Gesandten angekündigt, die in Iberia auf den Haupttross treffen würden. Zumindest dieser Plan schien aufzugehen. Midael abzuservieren war die richtige Entscheidung gewesen. Er tauschte den Kopf der Samaeliten und somit eine zwar kampfstarke, aber doch lediglich kleine Gruppe von Engeln gegen eine riesige Streitmacht im Osten ein und leitete so außerdem das Augenmerk des möglichen Verräters Arbogast auf ein gänzlich anderes Ziel als sein bisheriges. In diesen Tagen konnte sich die Ewige Stadt keinen schlimmeren Feind vorstellen als den Ramielis-Ab. Seine Ambitionen, das Konsistorium zu stürzen und den Pontifex als Marionette für seine Weltherrschaftsphantasien zu nutzen, waren zu groß und zu erschreckend, um verborgen zu bleiben. Abgesehen davon hatte nur einer das Recht, so etwas Unsagbares zu tun, und dieser Mann begab sich gerade zur Erneuerung. Nach so langer Zeit war er zwar manchmal müde von all den Intrigen und Ränkespielchen, aber sein Wille zu herrschen war ungebrochen. Arbogast musste schon mehr aufbringen, um ihn von seinem Thron zu stürzen, als eine läppische Maschine, um Engel nachzubauen. Auch für ihn wurde der Rohstoff knapp. Selbst wenn es ihm gelungen war, beim Feldzug gegen die Britannischen Inseln etwas von dem kostbaren Gut in die Hände zu bekommen, konnte es niemals ausreichen, um Æterna ernsthaft gefährlich zu werden. Doch was auch immer der Mann in Prag insgeheim ausheckte, zu Gemmingen würde es im Keim ersticken, und dazu kam ihm die große Schlacht, die ihnen bevorstand, gerade recht.
Em Susat hingegen zeigte sich widerspenstiger als erwartet. Er hatte die alte Vettel tatsächlich unterschätzt. Mit ihrer Weigerung, den Geboten Seiner Heiligkeit Folge zu leisten, hatte sie die Saat der Unsicherheit in die Köpfe der Machthaber Europas gepflanzt, und den Erfahrungen des Konsistorialkardinals zufolge war das schlimmer als eine offene Revolte. Zugegeben, der Schritt, dem Aufbegehren eines ketzerischen Kultes mit einer so drastischen Maßnahme wie dem Kindsmord zu begegnen, war tollkühn, beinahe töricht, aber selbst er war nicht frei von Fehl. Im Gegenteil, er hatte im Laufe seiner Karriere viele Fehler begangen, aber er hatte sie alle auch wieder geradebiegen können. Er war sicher, dass auch diesmal alles den Lauf nehmen würde, den er sich von Anfang an gewünscht hatte. Wenn dazu Umwege vonnöten waren, dann konnte er diese guten Gewissens unter Bauernopfer verbuchen. Jedenfalls würden die Gabrieliten sich kaum zurückhalten lassen, wenn es darum ging, Ruhm und Ehre bei der letzten Schlacht einzustreichen.
Johannes zu Gemmingen lächelte in sich hinein, als er die schwere Stahltür zu den unterirdischen Labors aufstieß und ins gleißend helle Licht der Neonröhren blickte. Am Ende war es ihm doch noch gelungen, der Erneuerung seiner Zellen heiter entgegenzugehen.
Midael hatte alles Zeitgefühl verloren. Am Anfang war es ihm nicht wichtig erschienen, und daher hatte er erst Tage später damit begonnen, die Mahlzeiten zu zählen, um sich zumindest eine grobe Vorstellung von der Zeit zu machen, die er hier unten verbrachte. Sein Körper sagte ihm aber, dass auch diese Maßzahl trügerisch war. Das Essen kam entgegen seiner früheren Vermutung keineswegs regelmäßig, zumindest
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