Apocalyptica
Satz in die Lüfte. Dicht über dem Erdboden glitt er lautlos dahin, bis er den Jungen erreicht hatte. Mit einem gewagten Manöver packte der stählerne Engel Naphal am Hosenbund und riss ihn mit sich.
Naphal fuhr der Schrecken in die Glieder. Wie bei einer jungen Katze versteifte sich sein ganzer Körper, als er den Kontakt zum Boden verlor und mit einem Ruck in die Höhe gerissen wurde. Er wollte schreien, seine Stimmbänder versagten ihm aber den Dienst. Stattdessen entrang sich seiner Kehle nur ein ersticktes Röcheln, als der Flug immer rasanter wurde und die Entfernung zum Boden immer größer.
Pfeilschnell entfernten sich die beiden von ihren Häschern, und nachdem Naphal den ersten Schrecken überwunden hatte, begann ihm der wilde Ritt allmählich ähnlich gut zu gefallen, wie zuvor seine erste Bootsfahrt, wahrscheinlich sogar besser, wenn er darüber nachdachte. Er entspannte sich ein wenig im Griff seines Schutzengels. Von oben schien die Welt deutlich weiter und unendlicher zu sein als auf der Erde. Langsam begann er zu begreifen, wie es sein musste, ein Engel zu sein. Wenn er groß war, wollte er auch ein Engel werden.
Naphal versuchte, nach hinten zu blicken und einen Blick auf seine Verfolger zu erhaschen. Er wollte ihnen eine lange Nase drehen oder doch zumindest die Zunge rausstrecken. Leider hatten sie sich bereits so weit vom Strand und somit außer Sichtweite der Wachen seiner Mutter entfernt, dass der Junge um seinen Spott gebracht wurde. Enttäuscht stellte er seine Versuche ein, sich umzuwenden, was seinem geflügelten Retter sichtlich Erleichterung verschaffte.
Nach für den Jungen viel zu kurzer Zeit, in der der Engel sich stetig landeinwärts in Richtung der Berge bewegt hatte, begann der Stählerne, langsam zu sinken. Sie landeten wenig elegant in einer Felslandschaft mit üppigem Baumbestand. Naphal kam es vor, als sei sein stummer Schutzengel ein wenig außer Atem, wollte ihn jedoch nicht darauf ansprechen, weil er dachte, es sei ihm vielleicht unangenehm, dass er seine Schwäche bemerkte. Stattdessen sah der Junge sich um. Man hatte keinen guten Überblick von hier aus. Man musste schon auf einen Baum oder weiter hoch in die Felsen klettern, wenn man Feinde kommen sehen wollte. Er hielt es für keine gute Idee, hier zu bleiben und schickte sich an, seine Erkenntnisse mit dem stählernen Engel zu teilen, der gerade damit beschäftigt war, Holz vom Boden aufzusammeln.
„Dies ist kein guter Ort, Herr Engel. Man kann nicht sehen, wenn einer kommt.“
Der Engel machte sich nicht einmal die Mühe, sich umzudrehen, sondern fuhr einfach fort, lose Äste und kleine Zweige vom Boden zu klauben. Den Speer hatte er an einen Felsen gelehnt. Offenbar hatte er keine Lust, mit Naphal zu plaudern. Der Junge verzog das Gesicht. Auch gut, dann eben später.
Wenn der Engel schon nicht redete, dann wollte Naphal sich wenigstens der seltsamen Waffe widmen, die er mit sich führte und mit der er dem armen, kleinen Käfer den Kopf abgeschnitten hatte. Als er sich an das Geschehene zurückerinnerte, überkam ihn erneut Trauer über das, was passiert war. Trotzig schaute er sich zum Mörder des süßen Käfers um und griff mit der Rechten nach dem Schaft des Speers. Der Schlag, der daraufhin durch seinen Körper fuhr, ging ihm durch Mark und Bein, und das Kribbeln in seinen Zähnen ließ auch Sekunden nach dem Stromstoß, den er erhalten hatte, nicht nach. Für einen kurzen Moment wusste der Junge weder, wer er war, noch, wo er sich befand, so sehr hatte die elektrische Entladung ihn verwirrt und eingeschüchtert. Als er die Augen wieder öffnete, war der Engel bereits über ihm und tastete an ihm herum. Seine rechte Hand war taub, und sein gesamter Körper schmerzte. Naphal glaubte, in den Augen des Engels so etwas wie Besorgnis zu entdecken, war sich aber nicht sicher, ob er in den Zügen seines Retters überhaupt jemals etwas mit Sicherheit ablesen können würde. Noch völlig taub an vielen Stellen seines Körpers gelang es Naphal dennoch, sich aufzusetzen. Selbst sein Hinterteil kribbelte, als hätte man ihm Ameisen in die Hose geschüttet. Unschuldig lag der Speer vor ihm im Gras, als wäre nichts geschehen. Voller Wut und Frustration wollte der Junge nach der Waffe treten, scheiterte jedoch kläglich, da sein Körper ihm immer noch nicht vollständig gehorchen wollte und der Engel ihn außerdem an der Brust zurückhielt. Trotzig traf der vernichtende Blick Naphals den des Engels, und für einen
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