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Apocalyptica

Apocalyptica

Titel: Apocalyptica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Graute
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konnte der Samaelit keinen Turnus erkennen. Oft hatte er darüber nachgedacht, was gerade in der Welt vor sich ging. In der Folge sann er über Flucht nach. Es war sicher möglich für ihn, diesen Ort zu verlassen. Seine Fähigkeiten, die, wie er seit kurzem wusste, keineswegs gottgegeben waren, sollten ihn dazu befähigen, die Gitterstäbe zu zerstören oder seine Wachen zu beeinflussen. Doch was dann?
    Midael hatte sein gesamtes Leben im Glauben verbracht, eine Aufgabe zu haben, ein Ziel, das ihm auf seinem Weg aus himmlischen Gefilden auf die Erde vom Herrn mitgegeben worden war. Jetzt war all das der Lächerlichkeit preisgegeben. Es gab weder einen Gott noch seine himmlischen Boten. Sie waren Produkte einer längst vergessenen Zeit. Geschaffen von Menschen, deren Ziele, so hoffte er, integer gewesen waren. Benutzt von weltlichen Machthabern als Instrument der Rache und Kontrolle über andere. Der Samaelit fühlte sich schmutzig bei dem Gedanken daran, was seine Geschwister im Namen der Angelitischen Kirche all die Jahre über mit ihren Schützlingen getan, welche Verbrechen sie im Namen des Herrn verübt hatten. Er war zur grotesken Witzfigur verkommen und fühlte sich hundeelend. In vielen düsteren Stunden, in denen der Herr und der Erzengel ihm nun keinen Trost mehr spenden konnten, lag er da und fragte sich, ob es nicht besser gewesen wäre, unwissend zu bleiben. Nicht in den Geist des mächtigsten Mannes auf diesem Kontinent einzudringen und auf eine jahrhundertelange Geschichte zurückzublicken. Doch jedes Mal blieb er sich die Antwort auf diese qualvolle Frage schuldig.
    Das Ende der Welt war gekommen. Die Apocalypse stand ihm und den Lebewesen dort draußen in vielerlei Hinsicht bevor. Er musste nur durch diese Tür schreiten und es verkünden. Die Welt, wie er sie kannte, würde in sich zusammenstürzen wie ein Kartenhaus – und was blieb? Hatten die Menschen ein Recht darauf, alles zu wissen? Hatte er ein Recht darauf, sie aus ihrer glückseligen Ahnungslosigkeit zu wecken und ihnen die Antwort auf eine Frage, die sie nie gestellt hatten, um die Ohren zu schlagen? Midael wusste es einfach nicht, und wenn doch, so traute er sich nicht, es sich einzugestehen. Seine Lehrer und Mentoren hatten ganze Arbeit geleistet. Selbst wenn er sich darauf einließ, Emotionen wie Angst oder Zorn zu empfinden, er würde daran scheitern. Er war nicht wie die Menschen, das hatte man ihn gelehrt. Er musste beherrscht sein, rechtschaffen, fehlerlos, über alle Zweifel erhaben. Was hatte man ihm angetan? Jetzt war er nichts von alldem. Er war kein Engel mehr, denn er hatte seine Unschuld verloren. Er konnte sich nicht mehr vormachen, einem höheren Ziel zu dienen, im Namen des Herrn Gutes zu tun. Er war aber auch kein Mensch, denn man hatte ihm das Menschsein ausgetrieben. Er hatte viel geträumt in letzter Zeit. Tief in ihm war eine Barriere gebrochen, ein Damm, und die Wogen der Erinnerung fluteten seinen Geist gierig wie eine Wüstenei, die jahrzehntelang ohne Wasser hatte auskommen müssen. Er hatte nicht immer Flügel gehabt, bei seiner Geburt war er ein normaler Junge gewesen, voller Träume und mit Flausen im Kopf.
    Als die Beutereiter kamen und ihn mitnahmen, damit er als Engel in den Dienst der Kirche trete, waren seine Eltern sehr traurig gewesen. Man hatte ihn verändert, und irgendwie hatten es die Diener der Kirche geschafft, dass er sich an nichts mehr, was vor seiner Engelswerdung geschehen war, richtig erinnern konnte. Schwestern und Brüder von ihm hatten später oft von seltsamen Träumen berichtet, die seinen jüngsten Erinnerungsfetzen sehr ähnelten oder ihnen sogar gleichkamen. Die Nonnae hatten sie immer beruhigt und ihnen erzählt, es seien nicht ihre Erinnerungen, sondern nur Echos vergangener Leben Fremder oder Versuchungen des Herrn der Fliegen. Inzwischen wusste Midael, dass sie gelogen hatten. Bei manchen Engeln funktionierte die Gedächtnisentnahme einfach schlechter als bei anderen. Ihr ganzes Leben lang wurden die Engel von denen belogen, denen sie vertrauten.
    Doch da war noch etwas anderes, das ihn noch viel mehr verstörte als die Lügen, die man ihnen aufgetischt hatte, um die Engel gefügig zu machen. Der Herr der Fliegen. Der Samaelit hatte Furcht in zu Gemmingens Geist gespürt. Entweder war der mächtigste Mann der Welt auch nicht allwissend, oder der Widersacher war im Gegensatz zu allem anderen keine Lüge, sein dämonisches Gezücht kein Überbleibsel aus grauer Vorzeit. Wenn das

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