Apocalyptica
hatte. Er hatte sich gemäß den Wünschen seiner Herrin die ganze Zeit über eher passiv verhalten, auch wenn es ihm widerstrebt hatte, nachdem die Dinge im Petrusdom eskaliert waren. Johannes zu Gemmingen hatte das Ungeheuerliche getan. Er hatte es gewagt, einen Ab eines Ordens vor aller Augen zu demütigen und – schlimmer noch – inhaftieren zu lassen. Equester blieb stehen, noch immer rebellierte sein Innerstes gegen diese Provokation. Geistesabwesend strich er sich mit der Rechten über den kahlrasierten Schädel. Sein dichter schwarzer Bart, den er für den hochoffiziellen Anlass hatte stutzen lassen, war bereits wieder dabei, die gewohnte Wildheit zurückzuerlangen, die dem Kustos der Templer in Nürnberg deutlich besser gefiel als die aufgesetzte Etikette der Politik. Er hatte förmlich gespürt, wie der Herzschlag der meisten Anwesenden im Kongregationssaal im Petrusdom für einen Moment aussetzte, als der oberste Konsistorialkardinal den Engel Midael in Ketten legen ließ, und er selbst hatte nicht sitzen bleiben können, als der Ab der Samaeliten Johannes zu Gemmingen dafür tätlich angegangen war. Welcher Schmach für die Angelitische Kirche hatte er beiwohnen müssen? Voller Abscheu hatte er der Botschaft seiner Eminenz gelauscht, der ihn nach der Ratssitzung hatte zu sich rufen lassen, um der ehrwürdigen Em Susat den Befehl Seiner Heiligkeit mit auf den Weg zu geben. Danach hatte ihn nichts mehr in Roma gehalten. Wie vom Widersacher persönlich getrieben war er auf dem schnellsten Weg nach Nürnberg zurückgekehrt, um seiner Herrin das Geschehene zu berichten, und erst weit hinter den Grenzen der Ewigen Stadt war sein aufgewühlter Geist einigermaßen zur Ruhe gekommen. Die Em hatte seinem Bericht stumm zugehört und gelegentlich eine Braue gehoben und einen Mundwinkel verzogen, wie sie es immer tat, wenn sie zornig war. Ihre Instruktionen hingegen sprachen diesmal von weniger blankem Kalkül, als er es von ihr gewohnt war. Seit Seine Heiligkeit in der Ewigen Stadt das unaussprechliche, den Mord an allen Neugeborenen in der Welt, befohlen hatte, hatte Equester an der eiskalten Em einen neuen Wesenszug entdeckt, der zuvor gut verborgen gewesen sein musste – Emotion.
Em Susat galt nicht gerade als nahbar oder einfühlsam. In den Jahrzehnten ihrer Regentschaft hatte sie Tausende in den Tod geschickt. Kein Orden besaß härtere Rituale und brutalere Aufnahmeriten als die Gabrieliten. Susat folgte mit ihrer Politik dem Pfad ihrer Vorgänger, und der Erfolg gab ihrem Handeln recht. Die Engel ihres Ordens waren zäh und unnachgiebig, und die Templer, ja selbst Beginen und Monachen folgten dem glänzenden Beispiel ihrer geflügelten Vorbilder. Vielen Menschen erschien das harte Vorgehen der Gabrieliten in Krisenzeiten als gnadenlos und grausam, doch sie sahen die Notwendigkeit hinter den Entscheidungen der Em nicht. Ihre Mittel waren sicherlich oft drastisch zu nennen, dennoch sorgte sie wie keine andere Herrscherin in Europa für den Erhalt des Status quo.
Zu viele Menschen hatten in den vergangenen Jahrhunderten Schutz in den Mauern Nürnbergs gesucht, und die daraus resultierenden Hungersnöte und Seuchen hätten fast dazu geführt, dass die Bevölkerung sich selbst ausgerottet hätte. Doch Nürnberg durfte nicht fallen. Hier lagen die Hoffnungen aller im Kampf gegen das Böse. Nur die Todesengel mit ihren Flammenschwertern konnten der Traumsaat Einhalt gebieten. Die Em war sich dieser Tatsache und der damit verbundenen Verpflichtung stets bewusst gewesen. Umso schwerer war es ihr gefallen, Seiner Heiligkeit zu trotzen, als er zu vernichten befahl, was sie seit Generationen beschützten. In der Folge war die Bevölkerung Europas fast Amok gelaufen. Vielerorts mussten angelitische Truppen mit den Neugeborenen gleich ganze Dörfer nebst ihrer Bevölkerung ausrotten. Die Kinder stellten das Zentrum ihres Glaubens dar. Sie zu töten bedeutete gleichermaßen den Tod aller, wenn nicht am eigenen Leibe, so doch spirituell. Was dachte Roma sich nur dabei? Sie spielten dem Herrn der Fliegen direkt in die Hände, aus Angst, einen Antigott zu erschaffen, einen Messias, der die Welt auf den Kopf zu stellen vermochte. Sechs Jahrhunderte lang hatte Seine Heiligkeit Petrus Secundus weise und mit Bedacht aus der Ewigen Stadt die Geschicke der Welt gelenkt, und nun brachte eine kleine aufwieglerische Truppe von Ketzern alles ins Wanken? Das Oberhaupt der Gabrieliten war erschüttert gewesen und war es noch, wenn man
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