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Arabiens Stunde der Wahrheit

Arabiens Stunde der Wahrheit

Titel: Arabiens Stunde der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Scholl-Latour
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leicht, ihren christlichen Brüdern und Kontrahenten vorzuwerfen, sie hätten den Pfad der wahren Religiosität verlassen und die sittlichen Werte des Christentums, in vieler Hinsicht mit denen des Islam identisch, verkümmern lassen. Die Reinheit der Offenbarung sei durch eine falsche Wissenschaftlichkeit getrübt worden. Die römische Kirche habe schließlich mit Verspätung und schlechtem Gewissen dem Gedankengut der Aufklärung stattgegeben und sogar mit Rücksicht auf das Idol des materiellen Fortschritts die Gewißheiten des Glaubens getrübt. Der Islam hingegen habe die innere Geschlossenheit wiedergewonnen und ordne seine politischen Vorstellungen kategorisch einem religiös orientierten Weltbild unter.
    Neben mir saß ein irischer Jesuit, der selbst Orientalist war und lange Jahre im Irak gelebt hatte. Er war dort Zeuge der blutigen Unterdrückung der mesopotamischen Christenheit, deren Gründung auf die Apostel zurückging. »Kann denn dieser Kurien-Prälat nicht begreifen, daß wir als Christen den Muslimen nur Achtung gebieten, wenn wir ihnen militant und fest im Glauben entgegentreten?« fragte der Geistliche erregt. »Kardinal Pignedoli möchte mit seiner Nachgiebigkeit die Duldsamkeit Qadhafis für die Chri­sten im Libanon einhandeln. Aber wissen Sie, was der libysche Oberst im Kreise seiner Getreuen erklärt hat? Es gebe eine gottgewollte, zwangsläufige Identität zwischen Arabertum und Islam. ­Jeder Araber müsse Muslim sein, und deshalb sei kein Platz – im ­Libanon und andernorts – für arabische Christen. Daß die katholischen Maroniten der Levante schon das Kreuz verehrten, als die Beduinen des Hedschas noch Götzen aus Holz und Stein anbeteten, scheint dieser Libyer völlig zu ignorieren.«
    Am Nachmittag des zweiten Konferenztages entstand Bewegung in der Versammlung. Die Delegierten und die meisten Beobachter standenauf. Muammar el-Qadhafi – von wenigen Sicherheitsbeamten umgeben – hatte den Saal betreten. Er ging gar nicht bis zur Bühne, sondern nahm mit betonter Bescheidenheit in einer Zuschauerreihe Platz. Da kam der Kardinal bereits auf den libyschen Revolutionschef zugeeilt, nahm ihn bei der Hand und führte den pro forma widerstrebenden Libyer auf die Empore. Ein gewaltiger Applaus brandete hoch. Ein paar italienische und französische Journalistinnen gerieten beim Anblick dieses schönen Mannes mit dem eindrucksvollen Beduinenkopf in Verzückung. Qadhafi wirkte in der Tat wie ein strahlender Filmschauspieler. Eine sympathische Jungenhaftigkeit ging von ihm aus, und nur aus der Nähe fiel die brennende Starrheit seines Blickes auf, die gelegentlich sogar etwas Gehetztes hatte. Qadhafi genoß seinen Triumph. Er war auf das einfachste gekleidet, eine schwarze Hose und ein schwarzer Rollkragenpullover. Neben diesem Krieger der Wüste erschien der beflissene römische Prälat mit seiner roten Kalotte, der roten Schärpe über der Soutane, den roten Socken in den Spangenschuhen wie ein Komödiant.
    Alle Augen waren von nun an auf Qadhafi gerichtet. Zu viele Geheimnisse rankten sich um diesen Mann. Die CIA hatte ein ausführliches Psychogramm des libyschen Diktators entworfen. Seine Herkunft als Sohn armer Beduinen habe ihn gezeichnet. Gerade weil er in seinen Knabenjahren stets mißachtet und vernachlässigt worden sei, weil er in der Schule zurückstehen mußte hinter den Söhnen wohlhabender und arroganter Feudalherren, habe sich das brennende Bedürfnis nach sozialer Gleichmacherei in ihm angestaut. Die ersten Knabenjahre in der erbarmungslosen Unendlichkeit der libyschen Wüste hätten ihn mit einem fast prophetischen Sendungsbewußtsein erfüllt.
    Jetzt war dieser Beduinensohn zum tätigen Instrument, ja zum Anstifter jeder Form revolutionären Umsturzes geworden. Er hatte versucht, seine eigene Nation von damals nur drei Millionen Menschen in eine egalitäre islamische Gesellschaftsform einzuschmelzen. Zweifellos war es ihm gelungen, seine Mitbürger mit dezenten Lebensbedingungen und mit nationaler Arroganz auszustatten. EineLaune der Geologie, der immense Erdölreichtum des tripolitanischen Bodens, verschaffte ihm die Mittel dazu. Aber sein krampfhafter Versuch, aus den Libyern eine geschlossene Vorhut der arabischen und islamischen Wiedergeburt zu machen, die Jugend seines Landes zu kasernieren und das Heldentum zur

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