Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Arabiens Stunde der Wahrheit

Arabiens Stunde der Wahrheit

Titel: Arabiens Stunde der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Scholl-Latour
Vom Netzwerk:
obligatorischen Staatstugend zu erheben, stieß auf die Trägheit, die Profitsucht und die Bestechlichkeit einer Bevölkerung, die sich zwar bei den offiziellen Kundgebungen hysterisch gebärdete, aber zutiefst pragmatisch blieb.
    Gegen Ende der Sitzung verließ Qadhafi als erster das Theater El Massara. Er wechselte ein paar Worte mit den Journalisten. Plötzlich erkannte er in der Menge der Reporter den Korrespondenten der Pariser Zeitung Le Monde . Eric Rouleau war als Jude in Ägypten geboren, und Qadhafi wußte das sehr wohl. Dennoch schloß er Rouleau mit brüderlicher Geste in seine Arme. Nächtelang hatte er mit dem prominenten französischen Orientkenner, dessen geschiedene Frau Rosy mich drei Jahre vorher in der sozialistischen Republik Jemen begleitet hatte, über die abrahamitischen Religionen diskutiert. Er hatte versucht, diesen mosaischen Angehörigen der »Familie des Buches« zur koranischen Offenbarung zu bekehren.
    In den sechzehn Jahren seit meinem ersten Aufenthalt in Tripolis hatte sich die libysche Hauptstadt auf gründliche Weise verändert. Die Strandpromenade wurde von einem chaotischen Gewirr von Kränen und Lagerhäusern überragt. Die Straßen waren durch eine hupende Autoflut verstopft. Als mein deutsches Kamerateam die Statue des römischen Kaisers Septimus Severus filmen wollte, die nur deshalb nicht vom Sockel gestürzt worden war, weil dieser Imperator libyschen Ursprungs war, wurde es einen halben Tag lang auf einer Polizeistation festgehalten. Die vielen tunesischen Fremdarbeiter, die aus rein finanziellen Gründen nach Tripolis geströmt waren – ganz zu schweigen von den zahllosen ägyptischen Hilfskräften –, klagten über die neureiche Überheblichkeit und die ideologische Verbohrtheit, die die Libyer Qadhafis auszeichneten. Die Stimmung in Tripolis war nicht nur den Fremden gegenüber feindselig und mißtrauisch. Die permanente Verschwörung wurde zumGrundelement dieses Staates, und die Geheimpolizei war allgegenwärtig.
    Am vorletzten Tag der islamisch-christlichen Konferenz kam es zur Enthüllung. Qadhafi – wieder ganz burschikos in Schwarz gekleidet – hielt seine große Rede und goß Hohn über das Haupt seines so gefügigen Partners, des römischen Kardinals. Dem Repräsentanten des Vatikan hatte es nichts genutzt, daß er gewissermaßen für die Kreuzzüge Abbitte leistete, daß er den europäischen Kolonialismus verurteilte, daß er die angebliche Mißachtung des Korans durch die Christenheit tadelte, ja Mohammed als Propheten des Islam anerkannte. Pignedoli hatte einem Kommuniqué zugestimmt, das später von römischer Seite widerrufen werden mußte, weil es den Zionismus als rassistische Bewegung disqualifizierte und Jerusalem als arabische Stadt bezeichnete, die weder geteilt noch internationalisiert werden dürfe.
    Der »Bruder« Qadhafi, wie er sich nennen ließ, begann seine Ausführungen, indem er Jesus, »Isa« auf arabisch, als Propheten gelten ließ und auf jene Verse des Korans verwies, die nicht nur den christlichen Erlöser, sondern auch dessen Mutter lobend erwähnen. Christen und Muslime verfügten über die gleiche Offenbarung, sie ständen einander nahe, seien eng verwandt, beriefen sich auf die gleiche Urheberschaft, beteuerte der Staatschef und Revolutionär. Es bedürfe nur einiger kleiner Berichtigungen, um die beiden zerstrittenen Zweige der »Familie des Buches« zusammenzuführen. Es reiche aus, wenn die Christen die Verfälschungen der Heiligen Schrift, die ihnen bei der Abfassung der Evangelien und bei deren Interpretation unterlaufen seien, richtigstellten und wenn sie Mohammed als Vollender der göttlichen Offenbarung, als Siegel der Propheten verehrten. Sobald diese Voraussetzungen erfüllt seien, stehe der Einheit zwischen Christen und Muslimen nichts mehr im Wege.
    Der irische Jesuit neben mir war vor Verärgerung rot angelaufen. »So tief ist Rom gefallen«, murmelte er. »Jetzt können wir nur noch den heiligen Bernhard von Clairvaux anrufen, daß er einen Funken jenes Geistes wieder anfacht, der damals das Abendland der Kreuzzüge beseelte. Die Christen des Orients werden die er­stenLeidtragenden dieser Kapitulation der Kurie sein.« Auch bei den muslimischen Delegierten gab es keine einhellige Zustimmung für den libyschen Führer.

Weitere Kostenlose Bücher