Arabiens Stunde der Wahrheit
obligatorischen Staatstugend zu erheben, stieà auf die Trägheit, die Profitsucht und die Bestechlichkeit einer Bevölkerung, die sich zwar bei den offiziellen Kundgebungen hysterisch gebärdete, aber zutiefst pragmatisch blieb.
Gegen Ende der Sitzung verlieà Qadhafi als erster das Theater El Massara. Er wechselte ein paar Worte mit den Journalisten. Plötzlich erkannte er in der Menge der Reporter den Korrespondenten der Pariser Zeitung Le Monde . Eric Rouleau war als Jude in Ãgypten geboren, und Qadhafi wuÃte das sehr wohl. Dennoch schloà er Rouleau mit brüderlicher Geste in seine Arme. Nächtelang hatte er mit dem prominenten französischen Orientkenner, dessen geschiedene Frau Rosy mich drei Jahre vorher in der sozialistischen Republik Jemen begleitet hatte, über die abrahamitischen Religionen diskutiert. Er hatte versucht, diesen mosaischen Angehörigen der »Familie des Buches« zur koranischen Offenbarung zu bekehren.
In den sechzehn Jahren seit meinem ersten Aufenthalt in Tripolis hatte sich die libysche Hauptstadt auf gründliche Weise verändert. Die Strandpromenade wurde von einem chaotischen Gewirr von Kränen und Lagerhäusern überragt. Die StraÃen waren durch eine hupende Autoflut verstopft. Als mein deutsches Kamerateam die Statue des römischen Kaisers Septimus Severus filmen wollte, die nur deshalb nicht vom Sockel gestürzt worden war, weil dieser Imperator libyschen Ursprungs war, wurde es einen halben Tag lang auf einer Polizeistation festgehalten. Die vielen tunesischen Fremdarbeiter, die aus rein finanziellen Gründen nach Tripolis geströmt waren â ganz zu schweigen von den zahllosen ägyptischen Hilfskräften â, klagten über die neureiche Ãberheblichkeit und die ideologische Verbohrtheit, die die Libyer Qadhafis auszeichneten. Die Stimmung in Tripolis war nicht nur den Fremden gegenüber feindselig und miÃtrauisch. Die permanente Verschwörung wurde zumGrundelement dieses Staates, und die Geheimpolizei war allgegenwärtig.
Am vorletzten Tag der islamisch-christlichen Konferenz kam es zur Enthüllung. Qadhafi â wieder ganz burschikos in Schwarz gekleidet â hielt seine groÃe Rede und goà Hohn über das Haupt seines so gefügigen Partners, des römischen Kardinals. Dem Repräsentanten des Vatikan hatte es nichts genutzt, daà er gewissermaÃen für die Kreuzzüge Abbitte leistete, daà er den europäischen Kolonialismus verurteilte, daà er die angebliche MiÃachtung des Korans durch die Christenheit tadelte, ja Mohammed als Propheten des Islam anerkannte. Pignedoli hatte einem Kommuniqué zugestimmt, das später von römischer Seite widerrufen werden muÃte, weil es den Zionismus als rassistische Bewegung disqualifizierte und Jerusalem als arabische Stadt bezeichnete, die weder geteilt noch internationalisiert werden dürfe.
Der »Bruder« Qadhafi, wie er sich nennen lieÃ, begann seine Ausführungen, indem er Jesus, »Isa« auf arabisch, als Propheten gelten lieà und auf jene Verse des Korans verwies, die nicht nur den christlichen Erlöser, sondern auch dessen Mutter lobend erwähnen. Christen und Muslime verfügten über die gleiche Offenbarung, sie ständen einander nahe, seien eng verwandt, beriefen sich auf die gleiche Urheberschaft, beteuerte der Staatschef und Revolutionär. Es bedürfe nur einiger kleiner Berichtigungen, um die beiden zerstrittenen Zweige der »Familie des Buches« zusammenzuführen. Es reiche aus, wenn die Christen die Verfälschungen der Heiligen Schrift, die ihnen bei der Abfassung der Evangelien und bei deren Interpretation unterlaufen seien, richtigstellten und wenn sie Mohammed als Vollender der göttlichen Offenbarung, als Siegel der Propheten verehrten. Sobald diese Voraussetzungen erfüllt seien, stehe der Einheit zwischen Christen und Muslimen nichts mehr im Wege.
Der irische Jesuit neben mir war vor Verärgerung rot angelaufen. »So tief ist Rom gefallen«, murmelte er. »Jetzt können wir nur noch den heiligen Bernhard von Clairvaux anrufen, daà er einen Funken jenes Geistes wieder anfacht, der damals das Abendland der Kreuzzüge beseelte. Die Christen des Orients werden die erÂstenLeidtragenden dieser Kapitulation der Kurie sein.« Auch bei den muslimischen Delegierten gab es keine einhellige Zustimmung für den libyschen Führer.
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