Arabiens Stunde der Wahrheit
Klerus passiv und quietistisch verhielt, wie es angeblich der ererbten Rolle dieses Glaubenszweiges von Märtyrern und Unterdrückten entsprach, lieà der Tyrann von Bagdad ihn relativ unbehelligt. Dieser Bereitschaft zur resignierten Unterwerfung verdankt der heute so einfluÃreiche GroÃayatollah Ali es-Sistani wohl sein Ãberleben.
Wenn jedoch einer der hohen Geistlichen der »Partei Alis«, etwa GroÃayatollah Mohammed Sadeq es-Sadr, sich anmaÃte, politische Brandreden zu halten, zu sozialer Verantwortung für seine notleidenden Jünger aufzurufen, wenn sich eine Gefahr der Aufwiegelung abzeichnete, dann schlugen die gefürchteten Geheimdienste zu und schreckten vor keiner Ruchlosigkeit zurück. Seine eifernde Gefolgschaft, die sich auf das revolutionäre Vorbild Khomeinis im benachbarten Iran ausrichtete, fand in seinem Sohn Muqtada es-Sadr einen streitbaren Vorkämpfer. Dieser junge Hodschatulislam bringt heute die amerikanische Restbesatzung mit seiner aufsäsÂsigen Parlamentsfraktion, mehr noch als mit seiner Miliz, der »Armee des Mehdi«, in zunehmende Bedrängnis.
Als arabischer Nationalist hatte Saddam Hussein die im Norden des Irak lebenden Kurden stets als fremdrassige Separatisten und Staatsfeinde eingeschätzt und sie entsprechend malträtiert. Bei den Schiiten war er differenzierter vorgegangen. Wenn ein Angehöriger dieser Religionsgruppe sich der Autorität der Mullahs entzog, alsirakisch-arabischer Nationalist und Befürworter der Säkularisierung, ja des Laizismus die Gebote der Republik respektierte, dann stand seinem Aufstieg zu hohen Würden innerhalb der alles kontrollierenden Baath-Partei nichts im Wege. So entdeckten landeskundige Beobachter nach dem Einmarsch der U.S. Army in Bagdad im Frühjahr 2003, daà sich unter den etwa zwei Dutzend verfemten Politikern, die von den Amerikanern als Kriegsverbrecher gesucht und anhand eines symbolischen Kartenspiels identifiziert wurden, ebenso viele Schiiten wie Sunniten befanden.
Der unsägliche Horror, der den Irak seit dem Frühjahr 2003 heimsucht, der konfessionelle Bürgerkrieg zwischen Sunniten und Schiiten, der Zehntausende von Opfern forderte, die permanenten Ãbergriffe der amerikanischen Besatzungsmacht, das Ãberhandnehmen von Geiselnahmen und Kriminalität haben bei der Masse der Bevölkerung keine Saddam-Nostalgie aufkommen lassen. Dazu hatten dessen Schergen zu unerbittlich unter den Opponenten und Kritikern seines Regimes gewütet. Doch irgendwie drängt sich der Gedanke auf, daà wohl nur ein furchterregender Tyrann in der Lage wäre, die zentrifugalen Kräfte des Zweistromlandes zu bändigen und zusammenzufügen.
Der Mann aus Tikrit, der sich ursprünglich als Auftragskiller der Baath-Partei nach oben gedrängt hatte und als Staatschef einem GröÃenwahn sondergleichen verfiel, war gewià ein Extremfall grausamer Arroganz. Seiner Republik jedoch hatte er â gestützt auf den immensen Petroleumreichtum zwischen Kirkuk und Basra â zu beachtlicher Prosperität verholfen. Saddam hatte das Zweistromland mit Gewalt in die Moderne geprügelt. Bis zum Ausbruch der sukzessiven Golfkriege verfügte der Irak über eine bemerkenswerte Infrastruktur und eine sich rapide entwickelnde industrielle LeiÂstungsfähigkeit. An den Universitäten wuchs eine Generation junger Intellektueller heran, die den Akademikern der anderen islamischen Länder überlegen war. Wer sich zu ducken verstand, niemals ein Wort des Tadels über den neuen »Nebukadnezar« äuÃerte und sich als Mitglied der regierenden Baath-Partei eintrug, konnte ein befriedigendes Auskommen finden. Unter der erdrückenden Präsenzder »Mukhabarat«, der Geheimdienste, lebte er in einer Sicherheit, die in scharfem Kontrast zum heutigen Chaos steht. Die Emanzipation der Frau war unter Saddam weit gediehen. Nur die wenigsten Studentinnen trugen ein Kopftuch. Keine von ihnen muÃte befürchten, auf dem Wege zur Vorlesung entführt, vergewaltigt oder angepöbelt zu werden.
Die beachtliche christliche Minderheit â zumal die Chaldäer, die sich zur katholischen Kirche bekennen und der Autorität des Patriarchen von Babylon unterstehen â genoà eine Toleranz wie in keinem anderen islamischen Staat. Die Willkür des Baath-Regimes, der allgegenwärtige groteske Personenkult waren unerträglich. Doch
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