Arabiens Stunde der Wahrheit
den Sunniten verläuft die Trennungslinie zwischen den extrem intoleranten Salafisten und Wahhabiten einerseits und den moderaten Kräften der hanefitischen Rechtsschule. Dazu kommen die Derwisch-Orden oder »Turuq«, die man als »Sufi« bezeichnet und die vor allem durch die Qadiriya vertreten sind. Innerhalb der »Partei Alis« vertieft sich der Graben zwischen den Befürwortern einer friedlichen parlamentarischen Machtübernahme, wie sie der jetzige Ministerpräsident Nuri el-Maliki anstrebt, und dem revolutionären Aufbäumen der »Armee des Mehdi«, die sich um den HeiÃsporn Muqtada es-Sadr schart, ganz zu schweigen von der »Fadila« oder Tugend-Partei, die ihren Schwerpunkt in der südlichen Hafenstadt Basra behauptet.
Der Streit über die künftige zentralistische oder föderative ÂGestaltung des Staates ist nur bei den Kurden, die bereits über eine weitgehende Autonomie mit eigener Fahne, eigener Armee und Âeigener Verwaltung verfügen, zugunsten eines an Separation grenzenden Status entschieden. Die Scharmützel, die sich die PeschÂmerga des kurdischen Regierungschefs Barzani mit den »Sahwa«-Verbänden der Sunniten, gelegentlich auch mit einer auf Ankara ausgerichteten Gruppe von Turkmenen liefern, werden im wesentlichen um den Besitz der Stadt Kirkuk geführt, die inmitten eines gewaltigen Erdölreviers gelegen ist.
Für eine weitgehende Autonomie der Provinzen, die sich regional zusammenschlössen, plädiert die schiitische Bevölkerungsmehrheit des Südens. In den Sümpfen und Sanddünen rund um den Schatt el-Arab befinden sich nämlich die reichsten Reserven an Petroleum, während die überwiegend von Sunniten bevölkerten Landesteile über keine nennenswerten Mineralvorkommen verÂfügen. Deshalb drängen letztere auch auf eine paritätische AufÂspaltungder Erdölgewinne unter allen Irakern innerhalb einer straff zentralisierten Republik. Ãberall wo die ethnischen und konfessionellen Gruppen sich überlappen â sei es in der Stadt Mosul, am Rande der Ruinen von Ninive, sei es in Kirkuk oder in der bunt gemischten Provinz Diyala mit Schwerpunkt Baquba â, herrscht weiterhin eine extreme Anspannung vor, und Gewalttaten sind an der Tagesordnung. Darüber wird in den Medien nur selten und selektiv berichtet.
Daneben sollte nicht die Masse der arabischen Iraker übersehen werden, die nichts so sehr fürchten wie den Ausbruch eines kollektiven Gemetzels, eine Wiederholung, ja Steigerung jenes blutigen Wahnsinns, der sich in den Jahren 2006 und 2007 austobte. Wohl jeder irakische Patriot ersehnt den Abzug der noch vorhandenen Amerikaner, aber irgendwie besteht bei so manchen â vor allem in der bürgerlichen Schicht des Mittelstandes â die panische Befürchtung, daà nach Ende der fremden Okkupation die Dämonen der internen Feindschaften sich vollends entfesseln und durch niemand mehr gezügelt werden könnten.
Auch die Beziehungen zu den Nachbarstaaten werden unterschiedlich beurteilt. Bei den überwiegend hanefitischen Sunniten des Irak besteht keine sonderliche Neigung, mit den fanatischen Wahhabiten Saudi-Arabiens zu paktieren, während für die Schiiten eine organische Bindung an die Glaubensbrüder der Islamischen Republik Iran durchaus keine Selbstverständlichkeit ist. Taumelt der Irak in ein politisches Vakuum? Steht am Ende die Aufspaltung der Republik, wie sie zu Zeiten des Osmanischen Reiches durch die getrennte Administration der Wilayate Mosul, Bagdad und Basra in groben Zügen vorgezeichnet wurde? Oder treibt das Land einer neuen Gewaltherrschaft entgegen?
Der Blick auf die Vergangenheit mag die Gefährdungen der Zukunft erhellen. Den Briten ist es mit ihrem Völkerbundsmandat Irak nicht besser ergangen als den Franzosen in Syrien.
Gemetzel am Tigris
ImSommer 1951 habe ich das Zweistromland, das damals noch den Namen »Haschemitisches Königreich Irak« trug, wie all die anderen Länder des Maschreq im Eingeborenenbus durchquert. Der Irak stand mitsamt seinem kindlichen Thronerben Feisal II. und seinem starken Mann Nuri Said, der einst als Offizier in der Osmanischen Armee gedient hatte, weiterhin unter dem Einfluà GroÃbritanniens. An den Ufern des Tigris, wo die StammesfürÂsten in Beduinentracht nach der unerträglichen Hitze des Tages die lindernde FluÃbrise im Garten des Hotel
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