Arabiens Stunde der Wahrheit
Verkehr gerichtet. Blau bemalte Schützenpanzer stehen einsatzbereit. Mein Ziel ist die im ganzen Islam hochÂangesehene islamische Universität Abu Hanifa, mit deren RekÂtor Doktor Scheikh Hussein el-Kubaisy ein Gespräch vereinbart wurde. Dieser Lehrstätte kommt eine besondere Bedeutung zu, vertritt sie doch die älteste Rechtsschule oder »Madhhab« des ÂIslam, die bereits im achten Jahrhundert von dem Korangelehrten Abu Hanifa gegründet wurde. Der Zugang zu dem ockerfarbenen Gebäude wird uns zunächst durch eine Rotte stumpfsinniger Wächter verwehrt, bis JoJo sich mit verblüffender Autorität einschaltet, das Personal anschreit, eine Telefonverbindung verlangt und den Zugang zum Rektorat ermöglicht. Zum ersten Mal hat sie einen leichten, durchsichtigen Schleier auf ihr Haar gelegt.
Die französischen Experten spotteten einst darüber, daà ein orienÂtalischer Bart stets befähigt sei, Besucher aus dem Abendland tief zu beeindrucken. Bei den zwei Patriarchen, denen wir in der Abu Hanifa-Universität gegenübersitzen und die uns ihr Wohlwollen bekunden, kann ich mich â auch wenn ich um einiges älter bin als die beiden â dieser Ehrfurcht nicht ganz entziehen. Der Rektor empfängtuns in Begleitung des Imams der Moschee. Die sunnitische Gemeinde des Irak ist zwangsläufig auf die Unterstützung Saudi-Arabiens angewiesen, das in seiner Gegnerschaft zur Islamischen Republik Iran eine schiitische Machtausübung im Irak nach Kräften verhindern möchte. El-Kubaisy spricht nur sehr zurückhaltend über die Zwangslage, in der sich seine hanefitische Rechtsschule, die bei weitem die bedeutendste im ganzen Dar-ul-Islam ist, in Mesopotamien befindet.
Die der saudischen Dynastie ergebenen Ulama der Wahhabiten lassen von den vier sunnitischen Rechtsschulen  â Hanefiten, Schafeiten, Malekiten und Hanbaliten â nämlich nur letztere gelten. Die Gefolgsleute des Ibn Hanbal zeichnen sich durch krasse Intoleranz, bornierte Schriftauslegung, durch ihre Berufung auf den frühen Fanatiker Ibn Taimiya und den Wüstenprediger Abdul Wahhab aus, der ein Zerrbild der Offenbarung Mohammeds entwarf. So sehr hatten die Wahhabiten sich von der relativen Toleranz der Usprungslehre entfernt, daà der osmanische Sultan und Kalif im neunzehnten Jahrhundert seinen ägyptischen Statthalter aufforderte, mit seinen regulären Truppen gegen diese aufsässigen und wirrköpfigen Beduinen in ihrer trostlosen Wüste des Nedjd militärisch vorzugehen. Die Wahhabiten wurden zwar vorübergehend besiegt, doch sollten sie im zwanzigsten Jahrhundert in Verbindung mit dem Stammesfürsten Abdul Aziz Ibn Saud ihre exzessive Scharia-Interpretation dank des Verfügens über die reichsten Erdölvorkommen der Welt unangreifbar, ja unantastbar machen. So bleibt es bis zum heutigen Tag.
Es besteht kein einfaches Verhältnis zwischen den gemäÃigten Hanefiten und den anmaÃenden, verstockten Jüngern des Abdul Wahhab. Nur mit groÃer Vorsicht wird dieses Dilemma in unserem Gespräch berührt. Dafür distanzieren sich der Direktor und der Imam um so heftiger von der sogenannten El Qaida Mesopotamiens, die sich ihnen zufolge â ungeachtet ihrer gelegentlichen Komplizenschaft mit dem saudischen Geheimdienst â als bittere Frucht der amerikanischen Besatzung entwickelt habe. Die Bedeutung der Sufi- oder Derwisch-Orden im Irak wird von den beiden Theologenheruntergespielt. Aber das weià ich besser, hatte ich doch sogar zu Zeiten Saddam Husseins den exaltierten Dhikr-Ãbungen der groÃen Tariqa Qadiriya beigewohnt, die zwischen Senegal und Afghanistan über zahllose »Muriden« verfügt. Unsere fromme Begegnung endet mit den üblichen Segenssprüchen, dem Wunsch nach religiöser Eintracht an Euphrat und Tigris und dem Bekenntnis zu einem einheitlichen irakischen Staat. Jedem von uns wird ein prächtiges Exemplar des »Qurâan el-karim« â des heiligen Koran â überreicht, eine besondere Ehrung für Nicht-Muslime.
Die weinenden Pilger von Kerbela
Kerbela, Oktober 2010
»Kerbela in schaâAllah! â Nach Kerbela, so Gott will«, schrien die todesbereiten Freiwilligen, die Pasdaran und Bassiji, während der ersten Phase des irakisch-iranischen Krieges, den Saddam Hussein gegen den Khomeini-Staat im Jahr 1980 vom Zaun brach, als sie unter
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