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Arabiens Stunde der Wahrheit

Arabiens Stunde der Wahrheit

Titel: Arabiens Stunde der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Scholl-Latour
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Oberhaupt der »Partei Alis«, zu dem Großayatollah Ali es-Sistani, keinen Zugang finden würde. Dieser höchste Würdenträger, auch als »Marja el-taqlid« – oder Quelle der Nachahmung gerühmt –, empfängt keine Andersgläubigen und lebt in mystischer Abgeschiedenheit.
    Aus seiner Hauza von Nejef gibt der beim Volk im Ruf der Heiligkeit stehende bizarre Greis mit dem Silberbart die Richtlinien seiner Gemeinde vor. Sistani gilt als Quietist. Er vertraut auf seine Geduld und seine List. Bei den Aktivisten der »Partei Alis«, vor ­allem bei den Jungen und den Armen, stößt jedoch die zögerliche Vorsicht Sistanis, der übrigens gebürtiger Perser aus Meschhed ist, auf wachsende Kritik. Die Bombenanschläge sunnitischer Extremisten, die angeblich als Werkzeug von El Qaida operieren, gegen schiitische Heiligtümer und Pilgergruppen, fordern eine gewalt­tätige Reaktion geradezu heraus.
    Um einen Repräsentanten der Sammelbewegung »Iraqiya« zu treffen, mit der der pro-amerikanische Opportunist Ayad Allawi einen bemerkenswerten Erfolg erzielte, muß ich mich in den innerenSchutzgürtel der »Green Zone« begeben, wo die Regierungsorgane Zuflucht vor den allgegenwärtigen Morddrohungen suchen. Die meisten Ministerien haben hier Unterkunft gefunden. In diesem Areal befinden sich auch die verbliebenen amerikanischen Befehlszentren. Seit die GIs die Kontrolle über die Zugänge der »Green Zone« ihren arabischen Vertrauensleuten überlassen haben – man will ja den Eindruck einer sich konsolidierenden irakischen Souveränität vermitteln –, geraten die Schutzmaßnahmen zur Manie. Mehr als eine Stunde brauchen wir, bis wir die diversen Durchsuchungen und Überprüfungen bestanden haben. Dabei werden wir von Polizeihunden beschnüffelt, und ich frage mich, wie die muslimischen Polizisten mit den Tieren zurechtkommen, die neben dem Schwein laut Scharia einer unreinen Gattung angehören.
    Schließlich landen wir in einer Art Wartesaal, wo nach einer zusätzlichen Leibesvisitation, die allmählich erheiternd wirkt, das Treffen mit einer Führungspersönlichkeit der Iraqiya zustande kommt. Wieder stehen wir einem eleganten Herrn mit akademischem Hintergrund gegenüber. Doktor Alaa Makki verweist zunächst auf den gravierenden Irrtum Barack Obamas, der seiner Meinung nach zu Unrecht der Bekämpfung von El Qaida in Afghanistan die Präferenz vor einer Bereinigung des irakischen Dilemmas eingeräumt hatte. Offenbar befürchtet die Iraqiya, die – überwiegend sunnitisch orientiert – sich gegen die Schiiten Nuri el-Malikis zusammengefunden hat, nach Abzug des letzten US-Soldaten ein Wiederaufkommen des konfessionellen Bürgerkrieges und die Entfesselung jener extremistischen schiitischen Milizen, die sich bislang – auch auf Weisung Teherans – relativ passiv verhielten. Die Iraqiya möchte zu dem straffen Zentralismus zurückfinden, der die Zwangsherrschaft Saddam Husseins kennzeichnete, womit sie allerdings – neben den meisten Schiiten – vor allem die kurdischen Autonomisten der Nordprovinzen gegen sich aufbringen.
    Laut Überzeugung Doktor Makkis sind die offiziellen Polizeiorgane und sogar die von Ministerpräsident Maliki aufgestellte Nationalarmee bereits durch Agenten der »Islamischen Republik Iran«unterwandert, auch wenn eine Reihe von Offizieren der Republikanergarde Saddam Husseins reaktiviert wurde. »Sie haben doch sicher mit unseren politischen Gegnern vom ›Supreme Islamic Council‹ Kontakt aufgenommen«, meint der Iraqiya-Politiker. »Dort haben Sie vermutlich erfahren, daß die Hauza von Nejef den Regierungschef Maliki nur als Übergangsfigur favorisiert und daß am Ende die Hardliner der geistlichen Führungsgremien den Ausschlag geben werden.« Tatsächlich waren wir beim Obersten Rat von Bahar el-Alum mit dem Hinweis verabschiedet worden: »The Ayatollahs are going to shake politics – Die Ayatollahs werden die Politik aufmischen.«
    Am folgenden Tag holen wir die kleine, muntere JoJo im Haus ihres Vaters ab, das im vornehmen, ausschließlich sunnitischen Wohnviertel Adhamiya gelegen ist. Bei der Fahrt durch die Stadt entfaltet sich wieder einmal das erdrückende Aufgebot an Militär und Polizei. An jeder Kreuzung sind die Maschinengewehre der Wachtürme auf den

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