Arbeit und Struktur - Der Blog
praktisch jeden Weg gerannt. Und meine Augen standen vor, sagt meine Mutter.
In der Glockenkurve beginnt jetzt die zuckerhutförmige, schwarze Fläche, wo sie sterben wie die Fliegen. Ein, zwei Jahre, hinten tröpfeln die restlichen zehn Prozent raus.
5.12. 2010 22:04
Zwei Stunden von Mitte durch den Tiergarten bis Charlottenburg gelaufen. Kaninchen im Überfluß. Abends Schwimmen in der Alten Halle: Plötzlich kann ich kraulen.
6.12. 2010 20:22
Jemand bemerkt einen Fehler, der mich schmerzt: Maiks Alibi “weil ich den ganzen Tag Schule gehabt hatte” (S. 247) funktioniert nicht am ersten Schultag. Man ersetze im Geiste “Schule” durch “die Mongos am Hals”.
8.12. 2010 22:00
“Ich packe meinen Koffer, und ich nehme mit: Nichts.” Vor und nach dem Jens-Friebe-Konzert lange im Schneetreiben Fahrrad gefahren. Die vierspurige Torstraße eine einzige plattgewalzte, weiße Fläche. Vor Freude noch ein paar Umwege gefahren, um dem Körper Gelegenheit zu geben, sich der winterlichen Schulwege zu erinnern: Pieksender Schnee in den Augen, das Verreißen des Lenkers, das Gegensteuern. Hellbraune Schlangen, die sich unterm Schutzblech stauen und wachsen und seitlich herauskringeln wie an einer Softeismaschine.
9.12. 2010 17:17
Brief von A. Immer noch die gleiche Handschrift, immer noch der gleiche Geist. “Die fünfundzwanzig Jahre, die ich seitdem durchlebt hatte, liefen in einer zitternden Spitze zusammen und entschwanden.” (V. Darkbloom)
Outtake: Tschick :
Einmal sollten wir ein Gedicht schreiben. Da hatten wir monatelang Gedichte gelesen und analysiert, Goethe, Schiller, Hebbel, so die Richtung, und das sollte jetzt weitergehen mit modern. Nur daß modern keiner mehr verstand. Einer hieß Celan und ein anderer Bachmann, da hätte man Simultandolmetscher gebraucht.
“Lyrik ist die Sprache der Gefühle”, hat Kaltwasser uns immer wieder klargemacht, und wer das in seinen Aufsatz schrieb, hatte schon mal eine Drei sicher: Lyrik ist die Sprache der Gefühle. Nur daß einem das bei diesem Celan auch nicht weiterhalf, und das ganze Desaster endete damit, daß Kaltwasser fragte, wer denn schon mal selbst so was probiert hätte. Ein Gedicht schreiben. Keiner natürlich.
“Das ist nichts, wofür man sich schämen muß”, sagte Kaltwasser und wartete.
Zwei Mädchen meldeten sich, Natalie relativ schnell, und Marie erst, nachdem sie rot geworden war.
“Mehr nicht?” fragte Kaltwasser, und dann meldete sich André. André Langin. Der schöne André. Hätt ich fast gekotzt. Und das Schlimmste war: Das brachte die Festung zum Einsturz. Nachdem André sich gemeldet hatte, meldete sich nach und nach fast die Hälfte der verblödeten Mädchen, die alle schon mal “naja, so was, was sich reimt” gemacht hatten, und noch zwei Jungs. Einer davon der Nazi. Der meldete sich, wie er sich immer meldete: Ellenbogen auf den Tisch und dann schlapp irgendein Finger krumm in die Luft gehalten, gern auch der Mittelfinger. Und der wollte jetzt also auch schon mal ein Gedicht geschrieben haben. Ich war anscheinend fast der einzige, der noch nicht auf die Idee gekommen war. Wobei leider nicht geklärt wurde, wer denn da was genau produziert hatte.
Bei dem Nazi konnte man wahrscheinlich schon davon ausgehen, daß das eher nicht so “Frühling läßt sein blaues Band” und so war. Wobei ich den Nazi nicht kannte. Keiner kannte den genauer. Vielleicht hatte er ja ein total gefühlsmäßiges Innenleben? Nur einmal hatte ich ihn außerhalb der Schule getroffen. In der S-Bahn, auf dem Weg ins Olympiastadion, zusammen mit hundert anderen grölenden Hertha-Spacken. Womit ich nicht sagen will, daß alle Herthaner Spacken sind. Ich bin früher auch mit meinem Vater ins Stadion gegangen. Aber die Ostkurve ist halt schon völlig verspackt, und das Komische ist, daß alle diese Hertha-Vollirren eine wahnsinnige Freude an Gedichten haben. In der S-Bahn den ganzen Weg zum Stadion immer: Sprechgesang, Jambus, Reimschema, alles. Nur daß der Inhalt eher nicht so goetheartig ist. Das geht schon immer mehr Richtung Türken, Auschwitz, Baseballschläger. Wir sind die Blauen, wir sind die Weißen, wir sind die, die auf die Schalker scheißen – und ich vermute, solche Gedichte wird der Nazi in seiner Freizeit dann wohl auch gedichtet haben. Womit er Kaltwassers Anforderung ja erfüllt gehabt hätte: Die Sprache der Gefühle. Aber, wie gesagt, nach Inhalt wurde nicht gefragt. Weil, Kaltwasser ging es jetzt um die
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