Arbeit und Struktur - Der Blog
Irinotecan, kann bei Bedarf abgesetzt werden, spar ich mir dann, nicht mein Leben, definitiv nicht mein Leben.
Der aktuelle Champion in meiner Gewichtsklasse hat es hier auf vier Hirn-OPs gebracht.
10.7. 2012 17:05
Spatzenfüttertag vor der Krankenhauscaféteria. Die ungebremste Freude im Spatzenhirn und im die Spatzen beobachtenden Menschenhirn, das die taxonomische Grenze zwischen den von verwandten Anwandlungen vergleichbar aufgeregt wirkenden Arten am Ende eines langen Krankenhaustages nicht mehr klar erkennen kann und in romantischer Unordnung zu lassen sich geneigt fühlt.
Neben uns ein sehr tumbes, frisch am Kopf operiertes und möglicherweise behindertes Kind, das die von C. gereichten Krümel schwerfällig auf das Geflatter zu seinen Füßen schmeißt.
Die kreischenden Vögel, das Kind, die Bäume, die in ihren Rollstühlen zum Rauchen rausgeschobenen Greisinnen, die Schwangeren, der tote Stein – wo feuern die Spiegelneuronen und wie stark? Schiebe den Regler auf eine Zahl zwischen 1 und 5.
C. 5
Spatzen 5
Schwangere 4
Greisinnen 2
Kind 1
Bäume 0
Stein etwa Nullkommafünf wegen des sich in der Form abbildenden und auf den Terrassenbenutzer klar und heute positiv einwirkenden Bewußtseins des Architekten.
13.7. 2012 12:33
Gestern Entlassung, meine Eltern überschwemmen mich mit Johannisbeeren.
14.7. 2012 9:43
Man kann nicht leben ohne Hoffnung, schrieb ich hier vor einiger Zeit, ich habe mich geirrt. Es macht nur nicht so viel Spaß. Hauptsächlich in den Knochen steckengeblieben das Erlebnis, nicht mehr tippen zu können. Sprachsoftware fürs nächste Mal bestellt.
Jetzt Blick über den Kanal, die Schiffe, die Brücken und die Baustellenkräne am regenverschleierten Berliner Horizont. Stille und Frieden. Und Arbeit.
14.7. 2012 23:22
Musik höre ich ja epilepsiebedingt schon lange nicht mehr, Musik fast immer falsch, fast jede Musik falsch. Richtig nur: Bach. Bach geht immer. Ging immer, war immer richtig. Hirnrichtige Strukturen, ahnte man ja schon lange. Auf Youtube über Gould kommend jetzt BRAHMS Piano Concerto no.1 in D minor. Geht auch.
Sie sind Redakteur einer Musikzeitschrift und wollen wissen, ob das Geräusch, das Sie berufsbedingt gerade hören, richtig oder falsch ist? Wenden Sie sich vertrauensvoll an Dr. epi. Herrndorf.
17.7. 2012 13:27
In der Praxis klagt eine alte Frau zur auf moderate Lautstärke gedimmten Wartezimmermusik. Sie jammert zu Layla, stöhnt zu Downtown, sie weint und winselt zu Lady in Black, Lambada, Nachrichten und Werbung.
Und weiter mit Musik.
Eine Sprechstundenhilfe kommt und erklärt, daß es mit Jammern auch nicht schneller geht, und das Jammern wird leiser und verstummt. Derweil haben die Kumuluswolken vor dem im neunten Stock befindlichen Panoramafenster der onkologischen Praxis noch einmal die massiven, schwerelosen und strahlenden Lichtblöcke aufgetürmt, wie sie an einem Tag vor genau 350 Jahren auch schon einmal über den Häusern und Kirchen der Stadt Delft zu sehen waren und bezeugt wurden durch Johannes Vermeer.
Vielleicht auch kein Rezidiv, sagt Dr. Vier, kann man auf den Bildern nicht sehen, was man sieht, ist die Raumforderung. Kann aber auch eine Einblutung gewesen sein, bei dem Gemüse in Ihrem Kopf geht das leicht, da platzt ein Äderchen, einfach so oder durch einen Schlag auf den Kopf – aber ich habe doch einen Knockout gehabt beim Fußball? Ja, sehen Sie, und den histologischen Befund kennen Sie auch, nicht. Keine Glioblastomzellen. Das bedeutet nicht viel, ja, ich weiß, was das Krankenhaus sagt, sieht man öfter bei solchen OPs, Narbengewebe, frische und ältere Einblutungen, Strahlenschaden, Leukenzephalopathie, das ganze Geschmadder – nur ob die Ursache für das Ödem ein Rezidiv war oder nicht, wissen wir nicht. Können wir nicht wissen, das zeigt das Bild nicht. Und sonst geht’s Ihnen gut? Neurologische Defizite weg, Dexamethason ausgeschlichen, Resektionshöhle frisch durchgefeudelt? Das ist doch erfreulich, wir kommen zum Avastin.
Schrankenstörung mittlerweile Fünfkommadrei, nein, Fünfkommavier Zentimeter, im Vergleich deutlich progredient.
Dreißig :
26.7. 2012 8:45
Ohne Operation wären Sie tot, erklärt Dr. Fünf und freut sich am guten Zustand des Patienten. War mir selbst zwar auch irgendwie klar, gesagt aber hatte das bisher keiner, und ich bin in diesen Phasen immer so gleichgültig gegen alles, daß außer der aktuellen Gegenwartssekunde in meinem Bewußtsein nichts Platz
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