Archer Jeffrey
die zwei Brüder sich kaum noch.
Etwa fünf Jahre später, als John gebeten worden war, bei einer Konferenz des Verbandes der britischen Großindustrie in London einen Vortrag über die Probleme der Automobilbranche zu halten, beschloss er, seinem Bruder einen Überraschungsbesuch abzustatten und ihn zum Dinner einzuladen.
Nach der Konferenz nahm John ein Taxi und fuhr nach Pimlieo. Aber irgendwie fühlte er sich nicht recht wohl dabei, ohne jede Vorwarnung bei Robin aufzutauchen.
Als er die Treppe zum obersten Stock hinaufstieg, wuchs seine Besorgnis. Er drückte auf die Wohnungsklingel, doch als die Tür – nach geraumer Zeit – geöffnet wurde, erkannte er seinen Bruder zunächst gar nicht. Es war fast unglaublich, wie er sich in den wenigen Jahren verändert hatte.
Robin sah ziemlich abgewirtschaftet aus. Sein Gesicht war aufgedunsen, die Haut fleckig, er hatte Tränensäcke unter den Augen und wenigstens zwanzig Kilo zugelegt.
»John«, sagte er, »was für eine Überraschung! Ich hatte keine Ahnung, dass du in der Stadt bist. Komm doch herein.«
Als Erstes schlug John ein aufdringlicher Geruch entgegen. Er fragte sich, ob er von den Malfarben kam, doch nachdem er sich verstohlen umgeschaut hatte, war ihm nicht entgangen, dass es hier viel mehr leere Weinflaschen gab als halb fertige Gemälde.
»Bereitest du dich auf eine Ausstellung vor?«, fragte er, während er die angefangenen Bilder betrachtete.
»Nein, zurzeit nicht«, entgegnete Robin. »Es besteht natürlich großes Interesse, aber es steht noch kein Termin fest. Du weißt ja, wie Londoner Kunsthändler sind.«
»Um ehrlich zu sein, das weiß ich nicht«, antwortete John.
»Nun, man muss entweder in sein, oder man ist dauernd in den Medien präsent. Hast du gewusst, dass van Gogh zu Lebzeiten nicht ein einziges Bild verkaufen konnte?«
Beim Dinner in einem Restaurant in der Nähe erfuhr John mehr über die Welt der Kunst, die Wechselfälle des schöpferischen Lebens, und was einige der Kritiker von Robins Werken hielten. John freute sich, dass sein Bruder sein Selbstvertrauen nicht verloren hatte, ebenso wenig die Überzeugung, dass er über kurz oder lang berühmt werden würde.
Robins Monolog zog sich während des gesamten Essens dahin; erst als sie in seiner Wohnung zurück waren, gelang es John, Robin für einen Moment zum Schweigen zu bringen und ihm zu erzählen, dass er sich verliebt hatte und beabsichtigte, Susan in Kürze zu heiraten. Robin hatte sich nicht einmal erkundigt, ob John noch bei Reynolds & Co. arbeitete, wo er inzwischen stellvertretender Geschäftsführer geworden war.
Bevor John zum Bahnhof zurückfuhr, beglich er für Robin mehrere längst überfällige Rechnungen für Lebensmittel und steckte ihm einen Scheck über 100 Pfund zu, den keiner mehr als geliehen betrachtete. Beim Einsteigen ins Taxi sagte Robin zum Abschied: »Ich habe gerade zwei Gemälde für die Sommerausstellung in der Royal Academy eingereicht. Ich bin sicher, sie werden ausgestellt. Du musst zur Eröffnung unbedingt wiederkommen.«
Am Euston-Bahnhof kaufte John sich eine Abendzeitung sowie ein Buch mit dem Titel Eine Einführung in die Welt der Kunst von Fra Angelico bis zu Picasso. Im Zug schlug er es sofort auf und fing zu lesen an. Als er in New Street in Birmingham einfuhr, war er bei Caravaggio angelangt.
Er hörte ein Klopfen draußen am Abteilfenster und sah Susan zu ihm hinauflächeln.
»Das muss ja ein spannendes Buch sein«, meinte sie, als sie kurz darauf Arm in Arm über den Bahnsteig gingen.
»Ist es wirklich. Ich hoffe nur, dass ich auch den zweiten Band noch bekommen kann.«
Die Brüder sahen sich während des folgenden Jahres noch zweimal. Das erste Mal bei einem betrüblichen Anlass, der Beerdigung ihrer Mutter. Nach dem Trauergottesdienst fanden sie sich bei Miriam zum Tee ein. Dort informierte Robin seinen Bruder, dass die Royal Academy seine beiden eingereichten Gemälde im Sommer ausstellen würde.
Drei Monate später reiste John nach London zur Eröffnung. Ehe er sich zum ersten Mal in seinem Leben in die hehren Hallen der Royal Academy wagte, hatte er gut ein Dutzend Kunstbücher über die frühe Renaissance bis zur Popart studiert und jede Kunstgalerie in Birmingham besucht; nun konnte er es kaum erwarten, den Galerien in den kleinen Seitenstraßen von Mayfair einen Besuch abzustatten.
Während er in den geräumigen Sälen der Academy herumspazierte, sagte sich John, dass es an der Zeit wäre, in ein Bild zu investieren.
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