Archer Jeffrey
ablehnen. Er erschien seiner Frau etwas weniger steif als gewöhnlich. Der kräftige Mann im langen schwarzen Gehrock und Hose mit Nadelstreif war gut einen Meter sechsundachtzig groß; sein dunkles, in der Mitte gescheiteltes Haar glänzte im licht der großen Glühbirne. Die wenigsten hätten sein Alter - er war erst dreiunddreißig - richtig erraten. Jugend war ihm niemals wichtig erschienen; Substanz war das einzige, was im Leben zählte. Wieder wurde nach William Lowell Kane geklingelt, und der Vater inspizierte den Kleinen, als prüfe er am Ende eines Banktages den Kontostand. Alles schien in Ordnung. Der Junge hatte zwei Beine, zwei Arme, zehn Finger, zehn Zehen, und Richard entdeckte nichts, was ihn später vielleicht in Verlegenheit bringen konnte. Also wurde William wieder fortgeschickt.
»Gestern telegrafierte ich dem Direktor von St. Paul. William wird für September 1918 aufgenommen.«
Anne erwiderte nichts. Richard hatte also bereits begonnen, Williams Laufbahn zu planen.
»Nun, meine Liebe, hast du dich bereits erholt?« erkundigte sich Richard. Er selbst hatte mit seinen dreiunddreißig Jahren noch nie einen Tag im Krankenhaus verbracht.
»Ja - nein - ich glaube«, antwortete seine Frau zögernd und versuchte, die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken, die ihm, wie sie wußte, mißfallen hätten. Ihre Antwort war nicht gerade von der Art, die Richard verstand. Er küßte seine Frau auf die Wange und kehrte in der hübschen Kutsche zum Familiensitz - Red House auf dem Louis Square - zurück. Mit Personal, Dienerschaft, dem neuen Baby und dem Kindermädchen würden jetzt neun Mäuler zu füttern sein, aber darauf verschwendete er keinen Gedanken.
In Anwesenheit all derer, die in Boston etwas zählten und einiger weniger, die nicht zählten, erhielt William Lowell Kane in der Protestant Episcopal Church von St. Paul den Segen der Kirche und die Namen, die sein Vater ihm bereits vor seiner Geburt zugedacht hatte. Der alte Bischof Lawrence hielt den Gottesdienst. J. P. Morgan und Alan Lloyd, beides hochangesehene Bankleute, und Milly Preston, Annes beste Freundin, waren die Taufpaten. Der Bischof träufelte Weihwasser auf Williams Stirn; der Junge gab keinen Ton von sich. Er lernte bereits, wie man sich in seinen Kreisen zu benehmen hatte. Anne dankte Gott für die Geburt eines gesunden Knaben; und auch Richard dankte Gott, der für ihn so etwas wie ein externer Buchhalter war, dem es oblag, die Taten der Kanes von Generation zu Generation festzuhalten; er dankte also Gott dafür, daß er einen Sohn bekommen hatte, dem er sein Vermögen hinterlassen konnte. Aber wahrscheinlich sollte er auf Nummer Sicher gehen und einen zweiten Sohn bekommen. Während er so kniete, sah er die Frau an seiner Seite an, mit der er zufrieden war.
Zweites Buch
5
Wladek Koskiewicz wuchs langsam. Allmählich wurde seiner Ziehmutter klar, daß seine zarte Gesundheit immer zu schaffen machen würde. Er bekam alle Krankheiten, die heranwachsende Kinder bekommen, und viele, die sie nicht bekommen, und gab sie wahllos an die übrige Familie weiter. Helena behandelte ihn wie den Rest ihrer Brut und verteidigte ihn heftig, wenn Jasio nicht Gott, sondern den Teufel für Wladeks Anwesenheit im Haus verantwortlich machte. Florentyna aber bemutterte Wladek, als sei er ihr Kind. Sie liebte ihn vom ersten Moment an mit einer Intensität, die ihrer Angst entsprang, als Mädchen aus armer Familie keinen Mann zu finden und kinderlos zu bleiben. Wladek war ihr Kind.
Der älteste Bruder, der Jäger, der Wladek gefunden hatte, behandelte ihn wie ein Spielzeug und hatte Angst, vor seinem Vater zuzugeben, daß er das schwächliche Baby, das jetzt zu einem kräftigen Kleinkind heranwuchs, gern mochte. Jedenfalls würde der Jäger im kommenden Januar die Schule verlassen und auf dem Gut des Barons zu arbeiten beginnen, und Kinder waren Weibersache, so hatte ihm sein Vater gesagt. Die drei jüngeren Brüder, Stefan, Josef und Jan, bekundeten wenig Interesse für Wladek, und die jüngere Tochter Sophia begnügte sich damit, ihn dann und wann zu streicheln.
Worauf die Eltern jedoch nicht vorbereitet waren, war Wladeks Persönlichkeit, die sich so sehr von der ihrer eigenen Kinder unterschied. Niemand konnte übersehen, daß er in jeder Hinsicht anders war als sie - äußerlich und innerlich. Die Koskiewicz waren alle groß, grobknochig, hatten blondes Haar und graue Augen. Was Bildung betraf, so waren ihre Ambitionen gering, und sie
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