Argus #5
Mordkommission des City of Miami Police Department kaute auf einer fettigen Rindfleisch-Empanada und blätterte die schrecklichen Fotos durch, die auf seinem Schreibtisch lagen. Der zugerichtete Leichnam einer jungen Frau, die nur ein schwarzes Höschen trug, lag in einem Müllcontainer, das lange blonde Haar mit dem Abfall verklebt, in dem sie gefunden worden war. Der erste Stoß Fotos zeigte nur ihr Gesicht, das zwischen Speiseresten, Mülltüten, alten Farbdosen und kaputten Möbelstücken mit vor Entsetzen weit aufgerissenen braunen Augen in den zynisch makellosen blauen Himmel über Miami starrte. Was von ihren Lippen noch übrig war, war zu einem fratzenhaften Grinsen verzerrt. Die Finger ihrer linken Hand ragten mit pink lackierten Nägeln aus dem übelriechenden Grab empor. Als Manny mit den Kollegen der Spurensicherung und dem Team der Gerichtsmedizin am Tatort angekommen war und zwischen Uniformierten und sensationslüsternen Gaffern auf der Leiter über dem stinkenden Container stand und sich bei 32 Grad im Schatten die cojónes abschwitzte, schoss ihm als Erstes der Gedanke durch den Kopf, dass etwas oder jemand unter ihr die arme Frau in den Abgrund zerrte, wie in dem Horrorfilm Drag Me to Hell . Es wirkte, als würde sie an ihren schönen blonden Haaren hinunter in den Müll gezogen werden, geradewegs in die Hölle, während sie verzweifelt – vergeblich – die Hände nach Hilfe ausstreckte.
Doch da war niemand, der ihr helfen konnte.
Ihr Name war Holly Skole, Fallnummer F10-24367, und sie war im Jahr 2011 das vierunddreißigste Mordopfer in der Stadt. Ihre Leiche war von Esteban «Papi» Muñoz entdeckt worden, dem Besitzer von Papito’s Café. Er war auf Holly gestoßen, als er die Reste des Tagesgerichts vom Vortag entsorgen wollte. Mit einem Griff an die Brust war der alte Mann zurückgetaumelt, auf sein Restaurant zu – und direkt in einen Geländewagen hinein, der eben auf den Parkplatz fuhr. Glücklicherweise brach er sich beim Zusammenprall mit der Stoßstange des Lexus nur zwei Rippen. Unglücklicherweise jedoch beendete ein Herzinfarkt, höchstwahrscheinlich ausgelöst durch den Anblick der Leiche im Müllcontainer, sein Leben. Doch erst nachdem der Notarzt da gewesen war und den sechzehnfachen Großvater in die Leichenhalle gebracht hatte, nachdem alles protokolliert und der beschlagnahmte Lexus abgeschleppt worden war und die Schaulustigen sich verdrückt hatten, erst dann kam jemand auf die Idee, sich einmal umzusehen und herauszufinden, was den alten abuelo eigentlich derartig erschreckt hatte. Schließlich schob ein blutjunger Verkehrspolizist, der vor zwanzig Minuten seinen Dienst angetreten hatte, die Klappe des Müllcontainers auf – und verbrachte den Rest des Morgens damit, seine Cornflakes auszukotzen.
Mit einem Schluck schlechtem Kaffee aus dem Automaten auf dem Flur spülte Manny den letzten Bissen der Empanada herunter, während er die Fotos durchblätterte und noch einmal die Berichte überflog. Abgelegte Leichen waren nie gut. Nicht dass ihm die blutigen Folgen von häuslicher Gewalt oder Gang-Schießereien sympathischer waren, aber wenn eine abgelegte Leiche gefunden wurde, befand sie sich meistens schon in fortgeschrittenem Verwesungsstadium, und sie stank und sah scheußlich aus. Der wahre Tatort fehlte – und damit die wichtigsten Spuren. Außerdem war es tragisch, wenn einem Opfer das letzte Quäntchen Würde genommen wurde, indem seine sterblichen Überreste wie Abfall einfach weggeworfen wurden. Verstörend vor allem, wenn die Leiche, die entsorgt wurde, einer hübschen neunzehnjährigen College-Studentin gehörte, die ihr ganzes Leben noch vor sich gehabt hätte.
An die Vermisstenanzeige des Coral Gables Police Department war ein Foto der lebhaften Studentin aus Connellsville, Pennsylvania, geheftet, die an der University of Miami eingeschrieben war. Ebenmäßige Haut, ein ansteckendes Lächeln und honigblondes Haar. Holly hatte ein Teilstipendium für Tanz und studierte Kommunikationswissenschaft im Hauptfach, als sie im April nach der Feier des einundzwanzigsten Geburtstags einer Freundin im Hardcore-Nachtclub Menace spurlos verschwand. Neun Tage später wurde ihre Leiche im Design District am anderen Ende der Stadt gefunden – einer seit kurzem angesagten Gegend, angrenzend an das berüchtigte Problemviertel Overtown, wo 1982 die Rassenunruhen in Miami begonnen hatten.
Es war nicht schwer, sie zu identifizieren; Hollys Handtasche mit vollem Geldbeutel
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