Abschied aus deinem Schatten
1. KAPITEL
J eden Samstagmorgen, gleich nach dem Frühstück und noch im Pyjama, putzte sie die Wohnung. Sie wechselte die Bettwäsche und hängte frische Handtücher ins Badezimmer, während die Schmutzwäsche auf einem Haufen neben der Haustür landete. Mit Gummihandschuhen bewaffnet, schrubbte sie zunächst das Bad, putzte danach in der kleinen Pullman-Küche weiter und wischte schließlich in Wohnzimmer und Schlafzimmer Staub, bevor der Staubsauger zum Einsatz kam. Zu guter Letzt warf sie durchgeschwitzt, doch zufrieden ihren Schlafanzug auf den Wäschestapel vorn im Flur und stellte sich unter die Dusche.
Sie hatte sich soeben angezogen und wollte sich gerade die Haare trocknen, als das Telefon läutete. Rasch ging sie an den Nebenanschluss im Schlafzimmer und vernahm die Stimme von Ian Hodges im Hörer, und als er „Rowena?” sagte, wusste sie, dass dies nichts Gutes verhieß. Ihr wurde flau im Magen, die Schultern verkrampften sich. Wenn Ian, der Geschäftsführer im Restaurant ihrer Schwester, anrief, dann konnte das sicherlich nur einen Grund haben: Er hatte etwas Schreckliches mitzuteilen.
„Was ist passiert?” Aus einem unbestimmten Gefühl heraus bekam sie es schlagartig mit der Angst zu tun.
„Die Sache fällt mir nicht leicht, Rowena”, sagte er. Ihre Furcht verstärkte sich, denn offenbar rang er nach Worten, um die Wucht der Hiobsbotschaft, die nun unweigerlich folgen musste, etwas abzumildern.
„Heraus damit, Ian!” Wollte sie mit den Tatsachen umgehen, musste sie diese zunächst erfahren.
„Claudia erschien gestern Abend nicht im Restaurant. Ich habe versucht, sie anzurufen, konnte sie allerdings nicht erreichen. Kam mir zwar merkwürdig vor, das Ganze, doch andererseits sind solche Absonderlichkeiten bei Ihrer Schwester ja gang und gäbe. Als sie jedoch heute Morgen noch immer nicht ans Telefon ging, hielt ich es für angebracht, persönlich bei ihr vorbeizuschauen. Wissen Sie, ich hatte ja die Reserveschlüssel des Lokals …” Seine Aufgeregtheit schlug sich in seiner Stimme nieder, die zunehmend gepresster klang. „Es tut mir sehr Leid, Rowena, aber offenbar hat sie Selbstmord begangen.”
„Mein Gott!” rief sie aus, wobei die Stimme in ihrem Innern ihr sofort eingab, dass Claudia zwar alles Mögliche tun, sich aber
niemals
umbringen würde. „Wie denn?” wollte sie wissen, mit einem Schlag so skeptisch, wie sie es wohl auch gewesen wäre, wenn Claudia selbst angerufen und sie aus dem Stand spontan zum Dinner eingeladen hätte. Ihr ganzes Leben lang hatte ihre Schwester nie etwas getan, ohne zuvor die möglichen Konsequenzen und Umstände zu bedenken. Claudia gehörte zu den Menschen, bei denen nie etwas ohne Planung geschah, die nie etwas dem Zufall überließen, sondern stets darauf achteten, ob ihnen das jeweilige Tun oder Lassen zum Vorteil gereichte oder nicht.
„Könnten Sie herkommen?” fragte Ian. „Ich habe sie zwar identifiziert, doch die Polizei möchte mit ihren nächsten Angehörigen sprechen.”
„Ja, sicher”, willigte Rowena ein. Sie konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. „Ich fahre sofort los.”
„Oh, gut. Danke!”
Sie legte auf und hatte das Gefühl, verschiedene Dinge gleichzeitig erledigen zu müssen. Schon wollte sie den Hörer wieder aufnehmen, um jemanden zu benachrichtigen, doch es fiel ihr niemand ein. Dann zog es sie Richtung Badezimmer, um ihr nasses Haar zu föhnen, doch sie gab dieses Vorhaben auf und wandte sich stattdessen ihrem Mantel und den Schlüsseln zu. Ihr Körper, so schien es, handelte aus eigenem Antrieb, während ihr Hirn offenbar große Mühe damit hatte, sich Claudia als Suizidfall vorzustellen. Ausgeschlossen war das, ganz und gar unmöglich!
Rowena hastete in Richtung Flur, beförderte den Wäschehaufen am Boden mit einem Fußtritt beiseite, um die Tür des Garderobenschranks öffnen zu können, schnappte sich die erstbeste Jacke und streifte sie über, während sie in die Küche eilte, um Handtasche und Schlüssel zu holen.
Unmöglich! Das kann gar nicht sein! redete sie sich ein, als sie die Wohnungstür abschloss und sich dann im Eiltempo zum Aufzug begab. Claudia soll tot sein? Unvorstellbar! Selbstmord? Nie im Leben! Claudia war viel zu zäh, zu sehr darauf fixiert, aus dem Leben noch das letzte bisschen Saft zu saugen. Sie war zum Sterben zu jung, zu erfolgreich und zu gut aussehend. Nie und nimmer hätte sie sich das Leben genommen. Dass jemand ihre Schwester in einem Wutanfall umbrachte, das hielt
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