Argus #5
und all ihren Kreditkarten lag bei ihr im Müllcontainer. Dank ihrer besorgten Mutter, die aus Pennsylvania eingeflogen war, sobald Hollys Mitbewohnerin die Vermisstenanzeige aufgegeben hatte, waren Fotos von Holly durch alle lokalen Medien gegangen, und so hatte Manny, als er auf der Leiter stand, sofort gewusst, wen er vor sich hatte. Und nun stand unter seinem Schreibtisch ein Pappkarton voller Familienfotos, die Cookie Skole ihm gegeben hatte, nachdem man ihre Tochter aus dem Müll gezogen hatte und die Ermittlung offiziell der Mordkommission übergeben worden war. Eigentlich hätte ein Foto gereicht, da die junge Frau ja tot war, aber wie erklärte man das einer am Boden zerstörten Mutter? Also hatte Manny den ganzen Karton genommen. Die Bilder reichten von Hollys Geburt bis zu einem Schnappschuss am letzten Weihnachtsfest, als sie zu Hause bei ihren Eltern unterm Weihnachtsbaum Geschenke öffnete. Die Fotos passten allerdings nicht so recht zu denen, die Holly auf ihrer Facebook-Seite zeigten, mit Mikrominiröcken und Netzoberteilen.
Holly Skole war zwar erst über eine Woche nach ihrem Verschwinden gefunden worden, aber offenbar noch nicht lange tot. Es sah sogar so aus, als hätte ihre Leiche nur wenige Stunden in dem Container gelegen, und der Rechtsmediziner gab an, dass die Totenstarre – die sich gewöhnlich spätestens zweiundsiebzig Stunden nach Eintritt des Todes wieder löste – noch in Kraft war. Das hieß, dass Holly erst seit kurzem tot war, als man sie fand. Und das wiederum hieß, dass sie über längere Zeit irgendwo festgehalten worden war, bevor ihr Mörder sie von ihrem Elend erlöste …
Sie hatte Verätzungen an den Füßen, Händen und im Gesicht, Fesselspuren an den Handgelenken und eine seltsame Verbrennung im Nacken. Laut toxikologischem Befund hatte man ihr mehrfach Diphenhydramin und Dextromethorphan injiziert – die Wirkstoffgruppen von Schlaf- und Erkältungsmitteln –, die bei erhöhter Dosierung Halluzinationen hervorriefen, wie Manny wusste. Holly war mit verschiedenen Objekten vergewaltigt und sexuell missbraucht worden. Todesursache war Ersticken. Doch die Verletzung, die Manny am meisten zu schaffen machte, war das Lächeln. Beziehungsweise das Fehlen eines solchen. Hollys Lippen waren mit Schwefelsäure weggeätzt worden, sodass Zähne und Zahnfleisch frei lagen und es von weitem aussah, als würde sie grinsen. Manny hatte den Eindruck, Hollys Mörder wollte, dass sie gefunden wurde. Er hatte gewollt, dass alle das groteske Grinsen sahen, das er ihr verpasst hatte, bevor es hungrigen Ratten zugeschrieben wurde oder der Verwesungsprozess das Seine tat. Kein Wunder, dass den armen Papi Muñoz der Schlag getroffen hatte, als er die Klappe des Containers öffnete. Er hatte in die Hölle hinuntergesehen – und die Hölle hatte zurückgegrinst.
Dreiundzwanzig Jahre als Cop in Miami – achtzehn davon bei der Mordkommission –, und trotzdem gab es leider immer noch Dinge, die selbst Manny Alvarez schockten, den sonst unerschütterlichen, körperlich einschüchternden, hundertzwanzig Kilo schweren Detective aus der Fassung brachten. Aus seiner Sicht gab es für die meisten Morde einen Grund. Jemand regte sich auf, verlor die Beherrschung und drückte ab, stieß mit dem Messer zu oder trat aufs Gas. Ein anderer wollte Rache, weil er sich ungerecht behandelt oder sich bestohlen oder betrogen fühlte, oder weil er nicht das Dope bekommen hatte, das ihm zustand. Oder einer brauchte Geld, und es löste sich ein Schuss, als er es sich zu nehmen versuchte. Oder es musste jemand einen Zeugen loswerden. Selbst Gang-Morde, die nur dazu dienten, anderen Angst zu machen oder in den Kreis aufgenommen zu werden – so pervers die Gründe auch sein mochten, es gab für das Töten zumindest ein Motiv. Aber hin und wieder landete ein Fall auf Mannys Schreibtisch, der sich allem Verstand widersetzte. Der keinen Grund, kein Motiv erkennen ließ. Ein Leben, nur um des Tötens willen ausgelöscht. Vielleicht, um eine kranke, archaische Neugier zu befriedigen, oder schlimmer noch – zum Spaß. Manny starrte das letzte Foto des missbrauchten Opfers an, aufgenommen auf dem Stahltisch in der Gerichtsmedizin. Das makabre Grinsen, die Fesselspuren, Verätzungen, Injektionen – alles eindeutige Hinweise auf sadistische Folter. Der Mörder hatte die junge Frau tagelang festgehalten, zweifellos, um mit ihr zu spielen, an ihr herumzuexperimentieren, ihr Angst zu machen, bis er sie am Ende
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