Argus #5
Menschen wohl schon auf dem uralten Sofa gesessen und vielleicht darauf gewartet hatten, nach unten in den Keller geführt zu werden. Er konnte die Rechtsmedizin nicht ausstehen. Vor allem heute nicht.
Die Empfangsdame kam zu ihm herüber. «Möchten Sie vielleicht mit Dr. Trauss reden, Detective Alvarez?», fragte sie mit gedämpfter Stimme, als wären sie in einer Kirche oder einer Bibliothek. Oder in einem Beerdigungsinstitut.
Er brachte es nicht über sich, nach unten zu gehen. Er brachte es nicht über sich, sie so zu sehen. Er wollte sie in Erinnerung behalten, wie er sie damals bei ihr zu Hause gesehen hatte: beim Umtopfen, in seinem Hemd, die Haare zum Pferdeschwanz gebunden, ein Lächeln im Gesicht. «Nein, ich bin nur hier, um den Obduktionsbericht abzuholen. Ich … ich …» Er geriet ins Stottern. «Es ist eigentlich gar nicht mein Fall. Ich bin nicht der leitende Ermittler.»
Sie nickte und entfernte sich wieder, und Mannys Handy klingelte. Es war Dickerson. Eigentlich wollte Manny nicht rangehen, aber er konnte die Anrufe nicht ewig ignorieren. Er schloss die Augen und lehnte sich auf dem Sofa zurück. «Ja, Mike?»
«Hallo, Bär. Wo steckst du? Ich versuche schon länger, dich zu erreichen.»
«Ich arbeite.» Mehr sagte er nicht.
«Seit Tagen hat kein Mensch mehr deine blöde Visage gesehen, Sonnyboy. Es geht schon das Gerücht, dass du in Rente gehst und nicht ich.» Mike lachte kurz auf.
Manny reagierte nicht.
«Pass auf, ich hab hier was für dich. Ich finde, du solltest im Revier vorbeischauen.»
«Sag’s mir einfach, Mike. Ich habe noch einen Termin.» Manny rieb sich die Augen. Sie fühlten sich so furchtbar müde an. Und sie brannten die ganze Zeit. Nichts half dagegen. Keine Augentropfen, kein Schlaf – falls er mal schlafen konnte. Und auch ausgiebiges Heulen half nicht.
«Es hat eine neue Entwicklung gegeben in dem Fall», sagte Mike.
Der Fall . Für das gesamte Morddezernat der City of Miami gab es inzwischen nur noch einen einzigen Fall .
«Ich habe den Erzengel aus dem Graber-Video.»
«Was?» Manny riss die Augen auf und setzte sich wieder gerade hin.
«Besser gesagt, ich habe den Mann gefunden, der den Erzengel auf den Rücken des Drecksacks aus dem Mordvideo tätowiert hat. Vor einiger Zeit habe ich einen Rundumschlag mit Mails und Faxen an diverse Krankenhäuser, Gefängnisse, Polizeistationen und Tätowierstudios in den Städten gemacht, wo wir die Snuff-Opfer gefunden haben. Und gestern kriege ich dann einen Anruf vom FBI. Ein Tätowierer aus der Bronx hat sein Werk auf einem meiner Faxe erkannt und versucht, diese Info gegen ein paar Monate weniger in einer Geldwäsche-Geschichte einzutauschen, wegen der er vor dem Bundesgericht steht. Unser Erzengel heißt Gary ‹Nutso› Smythe. Ich habe eine NCIC/FCIC-Suche durchlaufen lassen und Nutso in der Gefängnisdatenbank gefunden. Er hat vor längerem in Jersey und in Florida gesessen, wegen irgendwelcher Bagatelldelikte. Inzwischen wohnt er in Florida und arbeitet als Programmierer für einen Videospielhersteller in Delray. Das Blöde ist nur, der Tätowierer muss Smythe gesteckt haben, dass wir ihn suchen. Als das FBI in seine Auffahrt einbog, stand das Haus in Flammen. Die Rechner sind alle verbrannt. Nichts mehr zu finden. Und die Snuff-Website wurde wahrscheinlich schon in dem Moment abgeschaltet, als er das Wort ‹Cop› in die Tastatur gehauen hat.»
Manny schwieg lange. So lange, dass Dickerson schließlich fragte, ob er noch dran sei. «Kennt Smythe die Namen der anderen?», fragte er dann leise. «Redet er?»
«Nachdem er sein Haus abgefackelt hatte, hat er’s mit Selbstmord durch Polizeieinwirkung versucht. Ist nach draußen gerannt mit einer Knarre in jeder Hand. Er lebt zwar noch, aber in seinem Oberstübchen ist nicht mehr viel zu holen, sagt der Arzt.» Mike seufzte. Er wusste genau, was Manny dachte. «Aber es gibt ja noch diesen Smith. Reid Smith. Den suchen wir immer noch.»
Manny nickte, ohne etwas zu sagen. Die Polizei in Nassau County suchte schon seit fünf Jahren erfolglos nach dem Kerl. «Talbot Lunders ist gestern nach Zürich geflogen. Ohne einen Rückflug zu buchen.»
«Wir lassen ihn von Interpol beschatten. Wenn er sich irgendwas leistet, sammeln wir ihn ein.»
Wieder sagte Manny nichts. Es gab auch nichts zu sagen.
«Es tut mir leid, Bär. Ich weiß, wie hart das ist.»
«Es ist so eine Verschwendung, Mike. Sie ist für nichts und wieder nichts gestorben. Das wird einer dieser
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