Arkadien 01 - Arkadien erwacht
Germanien; sogar die Fuchsfamilien in China stammen ursprünglich von den Arkadiern ab. Hier auf Sizilien ist es ihnen besonders leichtgefallen, die Macht der Dynastien zu erhalten und auch nach außen hin weiterhin im Clanverbund aufzutreten. Die Carnevares gehören zu den Panthera – das sind Raubkatzen aller Art, nicht nur Panther – und ihr Alcantaras seid Lamien. Schlangenfrauen.Aus irgendeinem Grund sind bei euch nur die Frauen betroffen, niemals die Männer.«
Warum überraschte sie das nicht?
»Mir hat man erzählt«, fuhr er fort, »dass männliche Kinder der Alcantaras selten alt werden. Falls doch mal einer erwachsen wird, setzt bei ihm keine Verwandlung ein.«
»Nicht alt werden heißt, dass sie früh sterben? Oder dass sie … umgebracht werden?«
»Weiß ich nicht«, behauptete er ausweichend. Überzeugend klang das nicht.
Sie wollte den Zusammenhang so weit wie möglich von sich weisen. Ihr Vater war jung gestorben. Und ihr eigenes Kind, ihr Sohn … Sie weigerte sich, den Gedanken zu Ende zu denken.
»Und die Mafia«, fragte sie, um sich abzulenken, »ist in Wahrheit nichts als Maskerade? Um den Arkadischen Dynastien so was wie ein offizielles Gesicht zu geben?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Als die Mafia im neunzehnten Jahrhundert entstanden ist, aus Geheimbünden der sizilianischen Großgrundbesitzer, da wurden die Arkadier erst nur zufällig, auf Grund ihrer Geschichte, mit hineingezogen. Viele von ihnen gehörten zum alten Landadel, deine Familie und meine und noch ein paar andere, und so wurden sie Teil von etwas, das sie zuerst sogar abgelehnt haben. Sie fürchteten, dass bei Nachforschungen in Dokumenten und Akten weit mehr Dinge zu Tage gebracht würden als ein paar illegale Geschäfte. Aber schließlich haben die Dynastien erkannt, wie leicht es war, die Cosa Nostra für ihre Zwecke zu nutzen – und dass sie anderenfalls Gefahr liefen, ihren Einfluss auf Politik und Gesellschaft Siziliens an die Mafiaclans zu verlieren. Es ist jetzt drei, vier Generationen her, dass die Arkadischen Dynastien vollends mit der Cosa Nostra verschmolzen sind. Nur wenige Mafiaclans sind Arkadier, aber alle sizilianischen Arkadier gehören zur Mafia.«
Eine heftige Welle erfasste die Jacht. Rosa hätte beinaheihren Halt im Sessel verloren und verkroch sich noch tiefer darin. »Die Löwen und Tiger auf der Insel, waren das auch –«
»Nein, das sind gewöhnliche Tiere«, unterbrach er sie. »Genau wie die Schlangen im Glashaus deiner Tante. Früher glaubten die Dynastien, dass die Seele eines Arkadiers nach seinem Tod in ein Tier derselben Art fährt. Sie hielten sich lebende Exemplare als Totems. Sie wurden verehrt und man hat ihnen Opfer dargebracht.«
Rosa war nicht sicher, ob sie wissen wollte, was für Opfer das gewesen waren.
»Viele, vor allem die Älteren, glauben noch immer, dass die Geister aller verstorbenen Arkadier in Tieren weiterleben. Stirbt ein Tier, zieht die Seele des Arkadiers weiter in das nächste neugeborene Junge. Wenn das wahr wäre, dann würde jeder Nachfahre Lykaons noch immer existieren, irgendwo auf der Welt in irgendeinem Tier.«
»Dann müsste auch Lykaon selbst noch am Leben sein.«
»Manche glauben das. Einige denken sogar, dass er wiedergeboren worden sein könnte, um sich alle Dynastien zu unterwerfen.«
Sie erinnerte sich verschwommen an das, was Fundling zu ihr gesagt hatte, auf der ersten Autofahrt zum Jachthafen.
»Der Hungrige Mann«, murmelte sie.
Alessandro blinzelte. »Dann hast du doch von ihm gehört?«
»Nur flüchtig.«
»So wurde Lykaon genannt, nicht zu seinen Lebzeiten, sondern später, als der Mythos vom Kannibalenkönig von Arkadien von einer Generation zur nächsten weitererzählt wurde.«
»Und die Dynastien fürchten seine Rückkehr?« Auch davon hatte Fundling gesprochen. War auch er ein Arkadier? Hatten die Carnevares ihn deshalb bei sich aufgenommen?
»Man muss unterscheiden«, sagte Alessandro, »zwischen der ursprünglichen Legende vom Hungrigen Mann und dem, was später daraus wurde.«
»Das heißt?«
»Seit vielen Jahren schon stellen die Arkadischen Dynastien auf Sizilien auch den capo dei capi , den Boss der Bosse – das höchste Oberhaupt der Mafia. Und der Vorgänger des heutigen capo dei capi nannte sich selbst den ›Hungrigen Mann‹, wie ein Ehrentitel, mit dem er seinen Herrschaftsanspruch über die Dynastien und die gesamte Cosa Nostra untermauern wollte.«
Eine weitere Welle traf die Gaia von Steuerbord.
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